Welcome to the Underbelly

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Leonora war sowohl dankbar als auch überrascht, dass ihre Fahrt mit Longarm 3 sie nicht den ganzen Weg bis nach Unterwaagen brachte, sondern nur zu einer Art Zwischenstation, von der aus ein Seilbahnsystem Passagiere und Material weiter einen steil abfallenden Hang hinab beförderte. Zwar wirkte diese nicht weniger krude als alles andere in Waagen, doch die für den Passagiertransfer gedachten Kabinen sahen um einiges sicherer aus als die großen Plattformen der Autokranfahrstühle selbst. Ein Umstand, von dem die auf den Felsen zerschmetterte Gestalt des armen Kerls, der aus einem der anderen „Fahrstühle" gefallen, war ein Lied singen konnte.

Man versuchte vermutlich noch immer, ihn vom Granitboden abzukratzen ...

Bis auf zwei der Disciples, die bei dem Wagen verbleiben würden, der gesondert transportiert werden musste, teilten sie sich alle einen nach Urin stinkenden Seilwagen. Der rostige Metallkasten – ein Schifffahrtscontainer in dem man Windschutzscheiben als Fenster eingebaut hatte – beförderte sie langsam den Berg hinunter. Zum Glück war er stabil und sicher genug, dass selbst Leonora es wagte aus dem Fenster zu sehen, wenn auch nur um Theodor dabei zu beobachten, wie er sich mit Anskar unterhielt.

Ihr Liebhaber hatte Recht. Ihr alter Freund verhielt sich mehr als seltsam und hatte, so weit sie sich erinnern konnte heute noch nicht einmal geflucht. Hatte die Nacht mit Gretchen ihn wirklich so grundlegend verändert? Noch wusste sie nicht, was sie davon halten sollte, doch all jene Gedanken stoppten, als Unterwaagen sich vor ihnen öffnete wie eine verrottende Rose. Leonoras Augen weiteten sich in Staunen. Die Satellit-Stadt war zwar bei weitem nicht so beeindruckend wie Waagen selbst, doch Finsternis, die Aussicht war es. Flüsse aus Nebel glitten weißen Schlangen gleich unter ihnen zwischen kargen Bäumen hindurch und flossen auf die Stadt zu, welche sich am Fuße des Harzes ausbreitete. Der wuchernde Stadtmoloch nahm fünf, vielleicht sechs Mal soviel Platz wie Waagen selbst ein und sogar von ihrem hohen Aussichtspunkt konnten die scharfen Augen des Sukkubus die Lieblosigkeit erkennen, mit denen die Bauten zusammengeschachtelt worden waren. Bilder an die Elendsviertel der alten Welt drängten sich ihr auf, als sie die vielen kleinen, teils nur aus Wellblech zusammengebauten Hütten sah, die sich Schulter an Schulter den Hang hinaufzogen.

„Ist nich so schön wie Waagen selbst, nich wahr?" sagte Denny und stellte sich schief grinsend neben sie. Sein Bruder folgte ihm auf dem Fuß und starrte die Stadt an, als überlege er, darauf zu spucken.

Leonora nickte geistesabwesend. „Wie... Wie viele lebend dort?"

Denny zuckte die Schulter. „Hmm. Tausende? Keine Ahnung, ich glaub der Graf hat einmal eine Zählung veranlasst, is aber schon viele Jahre her und Unterwaagen ist seitdem um Einiges gewachsen."

Benny stieß ein verächtliches Grunzen aus. „Ne Menge armer Schlucker kommen aus dem Aschland hier her, weil sie sich ein besseres Leben in der großen Stadt erhoffen. Ich denke aber eher als ARSCHländer von ihnen. Träumer. Allesamt. Die, die es an den Monstern und Räubern vorbei schaffen stellen bald fest, dass nicht alles Milch und Honig ist. Geschieht ihnen Recht."

Denny warf seinem Bruder einen enttäuschten Blick zu und schüttelte traurig den Kopf. An Leonora gewandt meinte er, „Die Männer finden meistens auf einem der vielen Schiffe Arbeit, sind aber oft für Monate fort und wenn sie wiederkommen sin ihre Frauen ... Nun ja, sie tun das, was sie tun müssen, um zu überleben."

Benny grinste anzüglich und mimte eine obszöne Geste, was ihm eine gefurchte Stirn von Leonora und einen Schlag auf die Schulter von Denny einbrachte.

„Es gibt viele Freudenhäuser in Unterwaagen", sprach Denny weiter. „Viele Möglichkeiten, um Geld zu verdienen, für jemanden, der ... du weißt schon. Die meisten Frauen gehen sogar freiwillig dorthin, andere jedoch ... Nun ja, sagen wir mal so, dass Benny und ich vorhaben euch von den schlimmsten Vierteln fern zu halten."

ARCHETYPE 2.0Where stories live. Discover now