Tick-Tock

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Einem beiläufigen Beobachter wäre der schimmernde Fleck Luft auf dem Flachdach des Schlachthauses vermutlich nicht aufgefallen. Erst Recht nicht im Anbetracht der Geräusche, welche die kalte Luft erfüllten. Schreie des Todes, der Schmerzen und des Entsetzens, des Hasses und der Angst: eine Symphonie, alt wie die Menschheit selbst. Der schimmernde Luftfleck glich einem Hitzewabern, wie man es an sehr heißen Tagen über alten Teerstraßen sehen konnte. Nur dass dieses Wabern die Form eines Menschen hatte: eines kleinen Mannes mit einem großen Gewehr.

Tarnkappentechnologie – auch Ghost Cloaks genannt – war in der Welt des postapokalyptischen Deutschlands seltener als ein Greis der noch all seine Zähne hatte. Die Technologie aus den letzten Tagen vor der Götterdämmerung brach das Licht um den Körper des Trägers, so dass man den Hintergrund sehen konnte, wenn auch mit gewissen Verzerrungen. Der Mann der im Besitz dieses Wunderwerks der Alten Welt war und seit seinem Exil den Namen Adolf angenommen hatte, war auf das intimste mit dieser Technik vertraut. Wenig mehr als ein Geist, der den Tod brachte, fühlte er sich in seiner jetzigen Position ausgesprochen sicher.

Ein Umstand, der ihn wie so oft dazu verleitete, das was er durch das Zielfernrohr seines Scharfschützengewehrs sah, mit einem laufenden Kommentar zu versehen – denn Adolf liebte nichts mehr als den Klang seiner eigenen Stimme. Eine Stimme, die so sehr wie die des größten und wohl barbarischsten deutschen Kriegsherren klang, dessen Namen er angenommen hatte und dem er bis aufs Haar glich.

Adolf leckte sich mit der Zungenspitze über den blutigen Oberlippenbart und schniefte, um sein Nasenbluten zu unterdrücken. Er beobachtete das Kampfgeschehen mit Augen, deren Pupillen derart geweitet waren, dass sie das Braun der Iris fast gänzlich verschlungen hatten.

„Schwächlinge!", flüsterte er. „Lassen sich von diesen Nicht-Menschen massakrieren wie die Juden. Vergasen sollte man sie. Allesamt."

Der Archetype wütete wie ein Wahnsinniger unter den Aspiranten, mähte sie nieder wie Ähren auf dem Feld. Jeder Schlag des großen Mannes schien brachialer als der vorhergehende, so als ob jeder Mord und jede neue Wunde ihn stärker machte – was im Anbetracht dessen, was Benedikt ihnen über das Biowaffenprogramm erzählt hatte durchaus der Fall sein konnte. Körper und Stücke von Aspiranten wurden mit jedem Schlag durch die Luft geschleudert. Es sah fast so aus, als würden Granatexplosionen die Horde zerfetzen.

Adolf schniefte geräuschvoll. Das bittere Blut das seine Kehle hinunter rann sandte euphorische Kraft durch seine kleine Gestalt. „Zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl, dieser Nicht-Mensch!"

Doch es war nicht nur der Archetype, der den Aspiranten einen schrecklichen Blutzoll abverlangte. Dieses Weib – der Sukkubus, Leonora Hagen – war nicht weniger beeindruckend anzusehen, wenngleich auf eine sehr andere Art und Weise. Ein Skalpell, wo der Archetype eher wie eine Axt war. Ihre Bewegungen waren geschmeidig, voll von Anmut. Der Rotschopf tanzte förmlich um die Aspiranten herum, unter und zwischen ihren Schlägen hindurch, und wo immer sie war fielen kurz daraufhin Männer tot zu Boden.

Adolfs Zunge schoss zu seinem Bärtchen, wo er erneut sein Blut kostete. „Schnell wie eine Windhündin, dieses Flittchen!"

Sie bewegte sich in der Tat so schnell, dass Adolf versucht war sich eine Dosis des C-37 zu verpassen, um ihren Tanz besser genießen zu können, wagte es jedoch nicht. Er hatte vor dem Kampfbeginn eine nicht unerhebliche Menge Black Thunder geschnupft und man konnte nie so Recht wissen, wie die beiden Drogen interagierten. Außerdem hatten er und Attila jeweils nur eine Ladung der unglaublich kostbaren Kampfdroge von Benedikt bekommen und ihr Anführer würde ihnen die Haut abziehen, wenn sie sie verschwendeten. Man konnte in Waagen so ziemlich alles kaufen – alles bis auf das C-37. Selbst der Orden hatte nicht die Mittel die Kampfdroge herzustellen. Außerdem war die Mischung aus Methamphetamin und Schwarzpulver ebenfalls nicht zu verachten. In der Tat, war Black Thunder seine Lieblingsdroge – schließlich hatte sich sein Namensvetter ähnlichen Substanzen hingegeben.

ARCHETYPE 2.0Onde as histórias ganham vida. Descobre agora