Der Zweite

592 90 128
                                    

Totenstille hatte sich über den Kampfschauplatz gelegt, wie Frost über eine Leiche. Selbst die Raben waren fort, flogen auf schwarzen Schwingen dem Archetypen und seinem Häscher hinterher. Die wahren Aasgeier der Stadt lauerten zwar nicht fern, wagten sich jedoch noch nicht in die Nähe des Massakers. Besser warten und sicher gehen, als sich selbst zu den Toten zu gesellen. Die bittere Kälte fand schnell in den zerfetzten und zerstückelten Körpern eine neue Heimat. Berge aus Gedärmen dampften nicht mehr, Eis kroch langsam über Blutlachen und starre Augen, das letzte Todesröcheln schon lange verklungen.

Nichts bewegte sich mehr ...

Nichts außer dem Blut, das aus Theodors geschundenem Körper sickerte. Die warme Flüssigkeit schwächte das bereits vielerorts gebrochene Eis noch mehr. Es stöhnte und knirschte beinahe unentschlossen, bis es letztendlich mit einem finalen Knacken nachgab und die Blut- und Güllegrube den Körper des Wartungstechnikers mit gierigem Gluckern verschlang. Die ölige Suppe schwappte über Theodor zusammen und eine einzelne Luftblase blubberte träge empor. Totenstille breitete sich erneut über den Hinterhof aus, so absolut wie die Leere zwischen den Sternen.

Eine weitere Luftblase fand ihren Weg durch den Pfuhl, platzte mit einem plick – und Theodor explodierte hustend und prustend aus der Umarmung seines ganz persönlichen Alptraums. „Scheiße! Scheiße! Scheiße!"

Der kleine Mann schlug wild um sich, so gut wie blind von dem widerwärtigen Schlick, und fand seinen Weg zum Rande des Beckens mit einer Mischung aus Glück, Überlebenswillen und tiefstem Ekel. Theodor würde zwar nie in diesen Bahnen denken, doch es war tatsächlich Glück, dass er über das Eis, bis fast zur Wand des Hallenkomplexes geschleudert worden war. Das Becken war hier weit seichter und die Brühe reichte ihm kaum bis zur Hüfte. Dennoch war jeder Schritt eine Höllenqual. Der Schlamm aus Blut, Abfall und Fäkalien saugte an seinen Stiefeln, fast so als wolle die Grube sich nicht von seinem Opfer trennen.

Ein Strom aus Flüchen, für die ihm seine Mutter den Mund mit Seife und heißem Wasser ausgewaschen hätte, ergoss sich über Theodors Lippen. Zumindest wann immer dieser zwischen Husten, Keuchen, und Würgen die Luft dazu fand. Wie ein Ertrinkender der Land gefunden hatte, zog er sich letztendlich über den niedrigen Rand des Beckens und fiel in den Schnee, wo er sich mit dem explosionsartigen Eifer eines Feuerlöschers übergab. Die Farbe der Substanz, die in hohem Bogen über seine Lippen sprühte verriet, dass er einiges von der Brühe geschluckt hatte.

Als nichts mehr in ihm war als Abscheu, kroch er von der Sauerei die er gemacht hatte weg. Angetrieben von purstem Ekel, fing er sogleich an sich zu entkleiden und mit Schnee zu reinigen. Die Kälte kümmerte ihn nicht und jedweder Schmerz verblasste im Anbetracht des schieren Terrors seines infernalischen Zustandes. Es war dieser Ekel, dieser Hass vor Dreck, der Theodor das Leben rettete. Andere Männer wären durch eine Kombination aus Wundschock und Blutverlust vermutlich zusammengebrochen und erfroren. Nicht jedoch Theodor Kapp. Oh nein. Solange noch ein Fünkchen Leben in ihm war, würde er seine letzte Reise entweder sauber antreten, oder eben gar nicht!

„Ah... Igitt-Igitt. So dreckig! So Scheiße!-Scheiße!-Scheiße!-So dreckig."

Das schlimmste war, dass egal wohin er auch blickte, es nichts gab was wirklich sauber war! Nur eben weniger dreckig. Er schrubbte sich mit der Inbrunst des wahren Fanatikers, erst mit Schnee, dann mit dem mottenzerfressenen Umhang eines toten Aspiranten. In seinem Wahn brauchte es mehrere Anläufe bis er realisierte, dass es sich bei ein paar der besonders hartnäckigen Schmutzflecke auf seinem Fleisch um Einschusslöcher handelte.

„N... N... Nicht ... gut!" brachte er bibbernd hervor, als er das frische Blut betrachtete, dass aus seinen Wunden floss: eine im Oberarm, eine in der Brust und eine in seinen Eingeweiden. Die letztere beunruhigte ihn am meisten. Theodor hatte zwar so gut wie keine Ahnung von Medizin, doch der Umstand, dass er das pink seiner Darmschlingen sehen konnte, machte ihm mehr als ein bisschen Sorgen. „B... Bei ma ... meinem Bo.. Bo... Bolzenschneider. Gar n... ni... nicht... gut."

ARCHETYPE 2.0Where stories live. Discover now