Der Greif

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Sattlers schwere Stiefel hallten geräuschvoll auf dem Marmorboden wieder, als er zielstrebig durch die hohen Hallen und Gänge von Schloss Waagen schritt. Draußen schmetterte der Säuresturm in ohnmächtiger Wut gegen die dicken Granitmauern der Feste, doch hier drinnen hörte und spürte man nur wenig davon. Das jahrhundertealte Bollwerk hatte das Ende der Welt gut überstanden und seine dicken Mauern waren stark wie eh und je – ein gewaltiger Fels in der Brandung, ganz wie es der Graf für seine Stadt einst war und der es dank Sattlers Geschenk hoffentlich bald wieder sein würde.

Der noch immer steif gefrorene Schädel des Greifenbastards schlug bei jedem Schritt gegen seinen massigen Rücken, eine beständige Erinnerung an die Gewichtigkeit seines Hierseins. Hier und da stieg feiner Rauch von Sattlers Haut auf, von Stellen, wo die ersten Säuretropfen des Sturmes ihn erwischt hatten. Falls der Riese den Schmerz jedoch spürte, so zeigte er ihn nicht vor den Männern und Frauen der Palastwache. Gute Soldaten, allesamt. Sattler hatte nach dem desaströsen Attentat des Bastards persönlich dafür Sorge getragen. Einige trugen Augenklappen oder hatten leere Augenhöhlen wie auch er, ein Zeichen ihrer Ehre und Schande zugleich. Diesen wenigen nickte er knapp zu – einen Gruß, den sie mit ernsten Minen erwiderten. Er verlangsamte seinen Schritt, als er sich dem Refugium des Greifens näherte. Wie der Rest der Palastwächter war auch das Duo das die Doppeltüren flankierte in schwarze, militärische Kampfausrüstung gekleidet. Riot Gear, komplett mit durchsichtigen Schutzschilden und -helmen, Körperprotektoren sowie makellos erhaltenen Waffen. Die beiden Männer waren groß und muskulös. Gefährliche Gegner.

Der Ältere der beiden hatte eine Augenklappe – auch ihm nickte Sattler zu. „Der Greif? Wie lange ist er schon da drinnen?"

Ein Ausdruck der Trauer huschte kurz über das Gesicht des einäugigen Palastwächters. „Seit gestern."

Sattler nickte knapp. „Ist er allein?"

Der zweite Palastwächter schüttelte den Kopf. „Hush ist bei ihm."

Sattler grunzte und ging weiter. Er klopfte dreimal fest gegen die schweren Doppeltüren des Refugiums, wartete jedoch nicht auf eine Antwort sondern stieß die Türen forsch auf. Der Geruch, der ihm aus dem dunklen Raum entgegenschlug war der brennender Blumen: widerlich süß, schwer und voll. Sattlers Gesicht verfinsterte sich. Er hasste den Gestank von Opium.

Ein leises, melancholisches Lachen ertönte aus der Dunkelheit. „Es gibt nur einen Mann, der genug Dreistigkeit besitzt auf diese Art und Weise an mich heranzutreten. Komm herein, Thomas."

Der Sicherheitschef von Waagen folgte der Einladung und schloss die Doppeltüren hinter sich. Er wartete einen Moment, bis sich sein Auge an die Düsternis gewöhnt hatte. In den alten Tagen hatte der Graf sein Refugium mitunter gerne als seine „Männerhöhle" bezeichnet und in der Tat enthielt der relativ kleine, in einem Turmanbau gelegene Raum wohl mehr von der Essenz des Greifen als jeder andere Ort im Schloss.

Eine Wand wurde von den Lieblingsbüchern des Grafen eingenommen. Bände, die sich mit Geschichte, militärischen Abhandlungen, philosophischen und wissenschaftlichen Texten befassten, standen Seite an Seite mit abgegriffenen Unterhaltungsromanen. Es war angenehm warm, obwohl das Feuer im Kamin sich schon vor langem zu Asche gewandelt hatte. Leise, schwermütige Musik schien von überallher zu kommen, so allgegenwärtig wie der Gestank des Opiums. Es war gemütlich, ohne protzig zu wirken. Was den Raum jedoch ungewöhnlich machte, war der kleine, gänzlich durch Glas geschützte Balkon. Und dort, verloren in der Umarmung eines großen Ohrensessels, saß der Mann, dem Sattler die Treue geschworen hatte.

Der Greif winkte ihm träge zu. Seine krallenartigen Fingernägel hatten seit Monaten keine Schere gesehen. „Komm schon, alter Freund. Setzt dich zu mir und lass uns der Bestie, die gekommen ist unsere Stadt zu verschlingen gemeinsam ins Auge sehen. Wie in alten Zeiten."

ARCHETYPE 2.0Where stories live. Discover now