Frost und Asche

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Longarm 3
Waagen, Harzgebirge
08.11.2158, 12:26 Uhr, Ehemaliges Deutschland

Der Wolkenhimmel über dem Aschland hatte die Farbe des Abendrotes: grau, mit Schlieren wie Blut, das sich über den Himmel ergoss. Hier und da zuckten rubinfarbene Blitze durch die chemisch aufgeladene Troposphäre und tauchten das Land für Sekundenbruchteile in dämonischen Schein. Doch so düster und unheilvoll der Himmel auch war, er verblasste im Angesicht der Alptraumlandschaft, die sich nach Norden hin erstreckte wie eine gewaltige Karte.

„Mein Gott", flüsterte Anskar. „Was haben sie nur aus der Welt gemacht?"

Seine Hände schlossen sich um den frostbedeckten Stahl des Geländers von Longarm 3, einer großen, durch einen Autokran betriebene Plattform, auf der sie schon bald die Reise nach Unterwaagen antreten würden. Sein Griff war so fest, dass das Leder seiner neuerstandenen, stachelbesetzten Kampfhandschuhe knarrte.

Leonora und Theodor wirkten ähnlich erschüttert. Hinter ihnen murmelte Benny abfällig „Touristen", nur um kurz darauf von Denny ge-„Bro"-d zu werden. Die Gefährten ignorierten die Zwillinge, zu gebannt – und zu erschüttert – von der Aussicht.

Waagens Nordende war nicht von Wehrmauern begrenzt. Es brauchte keine, da das Land an einer scharfen Felskante endete, die mehrere hundert Meter senkrecht in die Tiefe abfiel. Im Osten und Westen ergossen sich die Ausläufer von Waagens Burggrabenflüssen rauschend in den Abgrund. Ihre Gischt bildete eine kleine weiße Wolkenfront, die sich von ihnen wegstreckte und Unterwaagen von allen Blicken verborgen hielt. Hel hatte ihnen auf dem Weg hierher erzählt, dass die Bewohner Unterwaagens den Harz auch als „Wolkenmacherberg" bezeichneten. Der Name passte.

Leonoras Augen glitten über die Landschaft. „Das Land muss im Zuge der Erdbeben abgesackt sein oder den Harz emporgetrieben haben. Unglaublich. Ich hätte nie gedacht ... Ich—" Sie brach ab und räusperte sich. „In Nordamerika gab es einst einen Ort der Grand Canyon hieß: eine gewaltige, hunderte Meter tiefe Schneise, die sich durch das Land zog. Ich habe ihn einmal in einer virtuellen Simulation besucht, bin auf seinem höchsten Kliff gestanden und habe in seine Tiefen geschaut. Es war beeindruckend, selbst für eine Simulation, doch das hier ..." Sie schüttelte den Kopf. Sprachlos.

Sogar von hier konnten sie die Überreste von Ruinen-Städten sehen, die zerrissen von Bomben und Erdbeben unter der grauen Schneelandschaft hervorlugten. Das Netz der Straßen und Autobahnen lag zerbrochen, die Wälder – wo noch welche standen – wirkten räudig und verkohlt: verkümmerte Schatten ihrer einstigen Pracht. Ein gewaltiger Einschlagkrater, der nur von einem Nuklearsprengkopf stammen konnte, bildete das Becken eines Sees dessen Wasser sogar aus der großen Entfernung zu leuchten schien.

Flüsse, Teiche und tiefe Gräben, aus denen sich Rauchschwaden erhoben, zogen sich wie Narben durch das Land und mancherorts quoll Magma wie Eiter aus einer Wunde, um über das Land zu mäandern. Mini-Vulkane keuchten Schwaden aus Asche bis zu hunderte Meter in die Luft und kleideten alles in eine Decke aus Grau. Selbst das Wasser des weitausladenden Ausläufers der sogenannten Knochensee, die sich nach Norden hinstreckte so weit das Auge reichte, wirkte abgesehen von einigen Schiffen in der Ferne bleich und leblos.

Das Aschland.

„Hey meine Hübschen!" rief Hel. „Es wird Zeit aufzubrechen."

Die Gefährten drehten sich um. Die hochgewachsene Elfe lehnte grinsend gegen die Motorhaube des stark umgebauten Hummers, der sie auf ihrer Reise nach Unterwaagen begleiten würde. Ein stark modifiziertes Scharfschützengewehr ragte über ihre Schulter und der weiße Pelzkragen ihres Ledermantels akzentuierte die dämonisch-engelhaften Gesichtszüge.

Sechs nicht minder schwer bewaffnete Disciples tummelten sich hinter ihr: allesamt Veränderte oder Mutanten. Sie hielten sich Abseits von dem halben dutzend in Riot-Gear gekleidete Roughnecks, die sie ebenfalls begleiten würden. Es handelte sich zwar ausschließlich um Menschen, doch sie wirkten nicht weniger gefährlich als Hels Söldner.

ARCHETYPE 2.0Where stories live. Discover now