Prolog - Teil 2

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Absolute Dunkelheit, dick und schwer wie die Erde auf einem Grab, erwartete Siegfried, als er wieder die Augen öffnete. Ich bin tot, war sein erster Gedanke, dicht gefolgt von einer Erinnerung an seine alte Heimschwester. Als er noch ein Kind war, hatte er den Fehler gemacht, die bösartige alte Hexe zu fragen, was sie nach dem Tod erwartete.

Dunkelheit, hatte sie gesagt. Lebendig begraben für alle Zeit.

Es bedurfte all seiner Willenskraft sich nicht einem ausgiebigen Schreianfall hinzugeben, doch glücklicherweise machte ihm sein schmerzender Körper unmissverständlich klar, dass er sehr wohl noch am Leben war. Wie es schien, hatte man ihn an Händen und Beinen an eine lange Stange gebunden und nun pendelte er im Schritt seiner Häscher hin und her. Oh ja, er war wahrlich ein Glückspilz ...

Die Schnur, mit der sie ihn gefesselt hatten, schnitt dabei so schmerzhaft in sein Fleisch, dass ihm Tränen in die Augen traten. Sein Helm war zwar fort, doch anhand des Klatschens von nackten Füßen auf Beton hatte er keine Probleme seine Fänger in der Dunkelheit auszumachen. Zudem verströmten sie einen äußerst seltsamen und geradezu verstörenden Geruch: eine Mischung aus frischer Erde, altem Blut und noch etwas, das er nicht einzuordnen vermochte.

Nichts von alledem trug dazu bei, sein hämmerndes Herz zu beruhigen. Das wum-wum-wum drohte seinen Schädel zu sprengen. Einmal mehr wollte er sich diesem ausgiebigen Schreianfall hingeben und sei es nur, um seiner Angst etwas Luft zu machen, doch einmal mehr obsiegte Intellekt über Instinkt – auch wenn es ein verdammt knappes Match war. Keine geringe Leistung im Anbetracht dessen, was ihn vermutlich erwartete. Sein Mund war mit einem Mal sehr trocken und er hatte nicht einmal mehr genug Spucke, um schwer zu schlucken. Die meisten Chimära-Mutanten waren schließlich auf Kannibalismus angewiesen, um zu überleben.

Sie umrundeten eine Ecke und mit einem Mal bildeten sich Konturen in der Dunkelheit. Siegfried reckte den Hals und sein Herzschlag beschleunigte sich. Gott, tat ihm der Nacken weh... Aber ja, das war ganz eindeutig Flammenlicht am Ende des Korridors. Die Luft, die ihnen entgegenwehte war ebenfalls wärmer und trug den Geruch von Rauch und – er schluckte schwer – das unverkennbare Aroma von bratendem Fleisch mit sich.

Menschenfleisch, schoss es ihm durch den Kopf. Was du da riechst ist bestimmt Menschenfleisch. Langschwein!

Als das zunehmende Licht seine Häscher aus der Dunkelheit schälte, wurde selbst dieser verstörende Gedanke beiseite gefegt, wie eine Kanalratte von einer plötzlichen Flut. Seine Augen weiteten sich, bis sie ihm fast aus dem Kopf poppten. Als Thorianer hatte Siegfried so ziemlich alles über die verschiedenen Chimära-Gattungen gelernt, doch diese Dinger waren ihm vollkommen unbekannt.

Beide waren menschenähnlich und geradezu obszön muskulös, mit dicken, wulstigen Adern, die sich wie ein Netz über den gesamten Körper zogen. Ihre Haut war von einer leichenhaft grünlichen Blässe und das einziges Zugeständnis zu Anstand und Kälte war ein Lendenschurz aus – er schluckte schwer – aus menschlichem Skalps.

Sein Drang zu schreien nahm geradezu kosmische Ausmaße an. Siegfried schloss die Augen und versuchte sich voll Verzweiflung an einer angeblich beruhigenden Atemtechnik, die ihm sein Nahkampflehrer einst gezeigt hatte.

Einatmen. 1-2-3-4. Ausatmen. 1-2-3-4. Einatmen. 1-2-3-4. Ausatmen.

Zu seiner Überraschung half dies sogar ein bisschen, doch als er die Augen wieder öffnete, verdampfte dieses bisschen Ruhe, wie ein Schneeflöckchen, das sich in die Hölle verirrt hatte. Und das Gleichnis war noch nicht einmal so fehl am Platz. Der Raum, der sich vor ihm ausbreitete, hatte die Ausmaße einer riesigen unterirdischen Kathedrale und war dem Anschein nach einst Teil einer unterirdischen Parkanlage gewesen. Die Decken von mindestens drei Ebenen waren jedoch eingestürzt, was diesen riesigen Raum geschaffen hatte. Im Schein der Flammen und entlang der Galerien über sich konnte er zudem hunderte von schemenhaften Gestalten erkennen – und tausende glänzender Augen.

ARCHETYPE 2.0Where stories live. Discover now