Kampf der Titanen

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Hel wartete auf den richtigen Moment – den Moment zwischen zwei Herzschlägen – mit der Seelenruhe des wahren Jägers. Als er kam betätigte sie den Abzug ihrer Hécate III geradezu liebevoll, streichelte ihn nur. Der Rückstoß des schweren Scharfschützengewehrs, schmerzhaft und vertraut, folgte auf den Fuß. Donner hallte durch die Nacht, als das panzerbrechende Explosivgeschoss auf den im Sprung begriffenen Zerstörer zuraste.

Die Kugel hämmerte in seine Brust, detonierte mit einem Feuerblitz und schleuderte die Gott-Bestie mehrere Meter weit durch die Luft. Der Zerstörer rollte über den blutigen Schnee und blieb einen Moment täuschend still liegen – dann erhob er sich wieder, wie einer der monströsen Unholde aus den alten Filmen, die einfach nicht tot zu kriegen waren. Seine Form war erneut der eines Menschen ähnlich, ein Avatar aus lebendig gewordener Dunkelheit von dem dutzende Fangarme züngelten wie der Rauch von dem Öl-Feuer bei der Brücke. Dutzende von Augen öffneten sich überall im schwarzen Fleisch und Hel hatte das unangenehme Gefühl, dass alle in ihre Richtung blickten, sie anfunkelten, wie dämonische Sterne vom Nachthimmel. Die Welt schien sich mit Stille zu füllen, selbst ihr Herz schien innezuhalten, erstarrt unter dem Blick dieser Augen. Der Moment verstrich und das Gott-Monster wandte sich erneut leichter zu schlagender Beute zu. Hel stieß einen Atem aus, von dem sie gar nicht wusste, dass sie ihn angehalten hatte. Sie bemerkte mit geradezu perverser Faszination, dass ihre Hände zitterten.

Ihre Hände zitterten ...

Sie hatten nicht mehr gezittert, seit diesem finsteren Tag vor fünfzig Jahren. Der Tag an dem sie ihre Mutter getötet hatte. Die Elfe stieß ein heiseres Lachen aus. „Göttlich. Wahrlich göttlich."

Der Wind trug ihr das vertraute Brüllen einer schweren Magnum entgegen und Hel zwang ihre Gedanken wieder in das Hier und Jetzt. Wie es schien, war Gretchen ebenfalls noch am Leben. Sehr gut.

Sie starrte durch das Zielfernrohr und das Grinsen auf ihren tätowierten Zügen war breiter den je, die Augen weit aufgerissen und erfüllt von fieberhaftem Glanz. Selbst die Besten der Besten brachen, wenn man nur lange genug auf sie einhämmerte und den Verteidigern von Waagen erging es nicht anders. Nur vier waren noch am Leben und diese suchten ihr Heil in der Flucht. Die Elfe konnte es ihnen nicht verdenken. Der Zerstörer hatte unter ihnen gewütet wie ein Krake in einem Tank voll Babyrobben. Die Überlebenden fielen fast übereinander in ihrem Streben die Tore der Stadt zu erreichen. Es sagte viel über ihre Situation aus, dass sie ihr Glück lieber in den noch immer lodernden Flammen suchen wollten, anstelle sich diesem Gott zu stellen.

Das Bellen einer Pistole erklang und sie sah gerade noch wie ein Torwächter schreiend in den Schnee fiel. Sein Hintermann, den sie als Blackfinger, einer ihrer Disciples erkannte, hatte ihm eine Kugel ins Bein gejagt und rannte mit grimmigem Gesichtsausdruck weiter. Die Elfe schüttelte amüsiert den Kopf. Wie hieß es so schön: Man musste nicht schneller als der Drache laufen, sondern nur schneller als das langsamste Mitglied der Gruppe. Der Zerstörer warf sich auf den Gefallenen und breitete sich über ihm aus wie die Nacht über dem Land. Seine Schreie verklangen abrupt. Hel zielte auf die Mitte der schattenhaften Gestalt, atmete langsam aus und drückte ab, verfehlte jedoch, als der Zerstörer wie ein Pfeil von der Sehne schoss.

„Fuck!"

Der Fluch kam als Knurren über ihre Lippen.

Sie hatte seit Jahrzehnten keinen Schuss so derbe verpatzt. Seit Jahrzehnten! Hel hatte noch einen sekundenbruchteil Zeit das blutige – und noch immer lebendige – Ding zu sehen, dass von dem Torwächter geblieben war, bevor ihre Kugel dessen Leiden mit einer spektakulären Explosion beendete.

„Du schlüpfriger Unhold, du!", sagte sie mit einem Schmollen.

Die Flüchtenden hatten mittlerweile die Brücke erreicht und das Fadenkreuz legte sich erneut über den Zerstörer, als dieser sich auf ihren Disciple warf. Arme aus sich windenden Schatten umschlangen den großen Mann in einer knochenbrechenden Umarmung. Er starb ohne dass ein Schrei über seine Lippen kam.

ARCHETYPE 2.0Where stories live. Discover now