Queen Cassiopeia

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Wann immer Leonora an ihren Tag im Hafen zurückdachte, war ihr erster Eindruck der von Gestank. Eine Mischung aus Salzwasser, Rost, Fisch und noch mehr Fisch. Wahrlich kein guter Ort, um einen scharfen Geruchssinn zu haben ...

Dutzende von Schiffen aller Art und Größe waren an den weitauslaufenden Anlegestellen vertäut. Bis auf wenige Ausnahmen allesamt Relikte aus der Alten Welt: Fiberglas Segelboote mit Flickenwerk-Segeln, rostige Dampfschiffe, die schwarzen Atem in die stinkende Luft keuchten, Walfänger mit festmontierten Harpunen-Kanonen und grimmig dreinblickenden Seeleuten, sowie allerlei Fischerboote mit Männern die Gesichter hatten wie gegerbtes Leder. Vielerorts wurden Fässer mit glitschigen Fischen in große Schalen gekippt, um gewogen zu werden. Die meisten zappelten noch. In dicke Kleidung gehüllte Frauen griffen sich dann diese Schalen, trugen sie zu blutigen Filetierstationen und begannen lebende wie auch tote Exemplare von ihren Eingeweiden zu befreien. Die Filets gingen in ein Fass, die Gedärme in ein anderes – nichts wurde verschwendet.

Anskar klopfte mit dem Knöchel gegen die Scheibe und deutete auf ein großes Schiff mit einer Superstruktur aus Kränen, welches mehrere Container auf dem Buckel hatte. Matrosen waren damit beschäftigt allerlei Kisten an Land zu bringen, die allesamt aussahen, als hätten sie Zeit am Grunde des Ozeans verbracht. „Was hat es mit denen auf sich?"

Hel drehte sich in ihrem Sitz, um besser zu sehen. „Sea-Scavengers – die Junk-Hunter des Ozeans. Neben den Walfängern sind diese Draufgänger wohl die Besserverdiener von Unterwaagen. Die Knochensee ist voll von noch nicht geplünderten Inseln, die früher mal Teil der Landmasse von Norddeutschland waren. Die meisten sind die Heimat von irgendwelchen Biestern, aber das hat noch nie einen echten Unternehmer abgehalten und natürlich befinden sich auch Schätze unter den grauen Fluten. Für die, die die richtige Ausrüstung und das Know-how haben danach zu suchen, versteht sich, so wie der Alte Mann."

Theodor drehte sich ihr zu. „Hö? Wer?"

„Ihr werdet schon sehen", sagte Hel mit einem enigmatischen Lächeln.

Langsam aber unaufhaltsam bahnte sich ihr Konvoi einen Weg durch den Trubel. Nach gut zehn Minuten bogen sie um eine windschiefe Wellblechlagerhalle, die man in ein Trockendock umgebaut hatte. Leonoras Augen fielen ihr fast aus dem Kopf, als ein riesiges Containerschiff vor ihnen aufragte wie ein titanischer gestrandeter Wal.

„Ist das ... Ist das die Queen?", fragte Leonora.

Hel grinste nur.

Als sie dem gewaltigen Berg aus Metall näher kamen, wurden mehr und mehr Details ersichtlich. Viele der Container auf dem Rücken des Schiffes hatte man in Behausungen umgebaut und Rauch von Dutzenden Kochfeuern hing über dem Ungetüm. Hängebrücken spannten sich wie die Fäden eines Spinnennetzes zwischen der riesigen Superstruktur und den Containern, welche vielerorts Türmen gleich in den Himmel ragten.

„Ich glaube ich habe einmal ein Bild von einer Schildkröte gesehen, die eine Stadt auf ihrem Rücken trug", sagte Anskar, seine Stimme leicht belegt. „Das hier sieht fast genauso aus."

Hel drehte sich zu ihm um. „Schildkröte?"

„Eine ... uhm ... Eidechse mit Panzer."

„Ahhh, ein Mutant, also."

„Nicht wirklich ... glaube ich."

„Tatsächlich? Und da ist sie groß genug, um eine ganze Stadt auf dem Rücken zu tragen?"

„Ähm ... Das war keine echte Fotografie, nur ein gezeichnetes Bild. Eine Darstellung aus einem Märchen."

„Ahhh ... Ok." Hel legte den Kopf schief und schien einen Moment nachzudenken. „Schmecken sie denn gut?"

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