Goliath und ...

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Gohr duckte sich unter der Tür des Brückenhäuschens hindurch und trat auf die rauchgeschwängerte Straße. Überall konnte er die angsterfüllten Schreie der Städter hören. Seine Lungen füllten sich bei jedem mächtigen Atemzug mit dem Aroma verbrannten Fleisches.

Fleisch.

Heute war ihre Nacht, die Nacht der großen Ernte. Die Nacht der Brut. Seine Nacht. Ihre Speisekammern würden alsbald gefüllt sein mit sukkulentem Fleisch. Die Zellen tief in der lichtlosen Unterwelt der Ruinen mit Gefangenen. Die, welche zu schwach waren würden ebenfalls bald ihre Bäuche füllen. Den meisten jedoch, denen die stark waren, die den Willen hatten zu überleben, zu töten ... auf sie wartete die Größte aller Ehren. Sie würden von der Milch der Allmutter trinken und Teil der Brut werden. Gohrs Brust schwoll mit Liebe und Stolz. Jeder der Brut hatte seine Existenz als etwas anderes begonnen. Einst waren sie alle nur schwaches Fleisch, doch nun waren sie mehr, so unglaublich viel mehr.

Seine Königin, seine Mutter, seine Geliebte, würde sehr zufrieden sein.

Die Eroberungsfantasien des riesigen Mutanten kamen jedoch abrupt zum Ende, als ein seltsames Gefühl in seiner Magengegend ihn herumfahren ließ. Dort, knapp fünfzig Meter entfernt inmitten des Marktplatzes, stand ein Mensch mit der muskelbepackten Statur eines Brutkriegers. In seinen Händen hielt er Waffen, die Gohr seltsam bekannt vorkamen, die er jedoch nicht einzuordnen vermochte. Gefahr ging von dieser Figur aus, so präsent und unleugbar wie das Flammenmeer in seinem Rücken. Dies war ein Gegner, den es nicht zu unterschätzen galt.

Hinter diesem neuen Widersacher türmten sich zwei metallene Ungetüme auf: Kampfwägen. Von Waffen strotzende Festungen auf Rädern. Neben den brutalen Vehikeln wartete Reihe um Reihe nicht minder beeindruckender Krieger. Schwarz gekleidet, schwer gepanzert und noch schwerer bewaffnet. Gohr konnte keine Angst in ihnen sehen. Was er jedoch sah war wie ihr Anführer beide Waffen hob und abdrückte. Ihr seltsam dumpfes Husten, beinahe verloren im allgemeinen Lärm, legte eine lang verschüttete und von seiner Verwandlung fast gänzlich ausgelöschte Erinnerung frei.

Sein Zyklopenauge weitete sich.

Gefahr!

Er sandte seinen zwei Kriegern eine mentale Warnung zu und hechtete in das Brückenhaus zurück. Einen Herzschlag später verwandelte die 40 mm Granate den Fleck an dem Gohr gestanden hatte in einen kleinen Krater. Steinfragmente und Erde pfefferten den riesigen Mutanten, als er hart aufkam und sich zur Seite rollte. Grelles Flammenlicht, sowie die gepeinigten Schreie seiner Krieger, die in seinem Kopf wiederhallten, ließen ihn schnell wissen, dass die zweite Waffe keine Explosivgranaten geladen hatte. Gohr stemmte sich mit einem Grunzen hoch, spähte aus der Tür und sah seine Krieger – die Besten, die die Brut zu bieten hatte – herumtorkeln wie brennende Marionetten. Zwei gingen zu Boden, fingen an herumzurollen und ließen brennende Pfützen aus ihrem eigenen Fleisch zurück.

Nicht gewillt einen sinnlosen Tod zu sterben, sah Gohr sich nach einem zweiten Ausgang um, fand jedoch keinen – weswegen er sich einen machte. Die Rückwand des Gebäudes, gefertigt aus den Steinen der geplünderten Ruinen, erwies sich jedoch als größere Herausforderung als die Tür. Dieses Mal brauchte er zwei Anläufe.

Gohr brach in einer Explosion aus Staub und Steinen durch die Wand und fand sich in einer schmalen Gasse mit mehreren, windschiefen Klohäuschen wieder. Er schüttelte sich, wie ein Hund, um sich vom Großteil des Staubes zu befreien und spähte umher. Abgesehen von einer fetten Ratte, die panisch davoneilte war niemand zu sehen. Sein weißes Auge hob sich zum Wehrwall. Hier und da sah er noch immer einen Spinnling über das aus Schrott, Schutt und Autowracks gebaute Hindernis krabbeln. Nirgends sah er jedoch Feinde – oder Verbündete.

Seine Entscheidung war schnell getroffen. Die unebene Wand war verhältnismäßig leicht zu erklimmen, selbst für jemanden seiner Ausmaße und seine Sichelhand grub sich tief in das Fleisch des Wehrwalls, um ihm Halt zu geben. Schon bald stand er auf den Stadtmauern und sein großes weißes Auge spähte umher. Der ölige Rauch, der noch immer aus dem Schlund des Torweges atmete, verpestete die Luft und verweigerte ihn die Sicht auf das andere Ufer.

ARCHETYPE 2.0Where stories live. Discover now