Cannibal Jones

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Schlachterviertel

Unterwaagen, Aschland

08.11.2158, 16:23 Uhr, Shatterlands (Ehemaliges Deutschland)


Anskar schüttelte benommen den Kopf und erbrach einen Schwall Blut. Die Welt schien verzerrt und drehte sich vor seinen Augen. Gerüche, Geräusche, Gefühle, Erinnerungen – alles stürmte und hämmerte auf ihn ein, war fast mehr, als er ertragen konnte. Blut rauschte in seinen Ohren wie das Tosen eines Flusses. Sein Blut ... etwas stimmte nicht damit.

Er würgte und erbrach einen weiteren Schwall, kroch weiter ohne zu wissen warum, über Leichen und Körperteile und im Tod erstarrte Fratzen, die ihn aus glasigen Augen anstarrten. War dies die Hölle? Oder sein persönlicher Himmel? Er kicherte und erbrach sich erneut, diesmal in das Gesicht eines Mannes, der ihm seltsam vertraut vorkam. Ein Freund? Ein Feind? Ein Freund, den er getötet hatte? Der Mann schien ihn auszulachen, als Anskar sich vor Krämpfen krümmte. Ein Gedanke, ein Name, der sich immer wieder aus dem Chaos in seinem Schädel erhob, hielt ihn jedoch bei Bewusstsein.

Leonora.

Er klammerte sich an diesen Namen wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring.

Nora. Weiter... muss weiter... Nora. No...ra.

Der Name gab ihm Kraft. Anskar schüttelte den Kopf, knurrte und kroch weiter, angetrieben von einem instinktiven Verlangen. Ein Bild schob sich in seinen Kopf. Blaue Augen. Blonde Haare. Das Gesicht eines Engels. Nora? Nein. Seine Zähne mahlten gegeneinander. Nein, nicht Nora, sondern jemand, der ihm einst nicht weniger bedeutet hatte. Jemand, der ihn nicht weniger verletzt hatte.

Er schüttelte den Kopf. Nicht wichtig. Nicht wichtig.

Das Gesicht wandelte sich. Blondes Haar verdunkelte sich, blaue Augen wanderten ins Grüne. Das Lächeln jedoch blieb das gleiche, die Ähnlichkeit der beiden zueinander fast schmerzhaft. Nora. Er musste zu ihr. Musste sie retten. Sie retten vor ... vor was? Vor wem? Er blickte auf und für einen Moment klärte sich das Kaleidoskop aus verzerrten Farben und Formen, aus Erinnerungen und den Schreien und Gelächter in seinem Kopf und – da war sie. Angelina ... Nein. Nora. Seine Nora. Sie lag im blutigen Schnee. Rührte sich nicht.

Anskar fletschte die Zähne, schüttelte wutentbrannt den Kopf. „Nein... Nein. Nein. Nein!"

Er wusste nicht wie, doch wie schon zuvor in anderen Notsituationen reagierte sein Körper auf die missliche Lage – in diesem Fall auf das Gift, das durch seine Adern rauschte und das jeden Gedanken, jede Bewegung schwer machte. Ein Beben rollte durch sein Fleisch und schwarze Tentakel brachen aus seinen Unterarmen, um sich wie die Wurzeln eines Baumes in den blutigen Schneematsch und dann in die Leichen um ihn herum zu graben. Anskar starrte nur, verständnislos, dumpf. Wo auch immer die suchenden Auswüchse auf Blut trafen, wurde es verschlungen.

Der rote Schneematsch verlor schnell überall an Farbe, als sich die windende Dunkelheit spaltete, um sich wie ein Netz aus Kapillaren auszubreiten. Rings um ihn herum zitterten und zuckten die Toten, als sich das Proto-Fleisch in sie grub. Der Körper des Mannes auf den Anskar sich übergeben hatte schien vor seinem immer wieder verschwimmenden Blick in sich zusammenzufallen, als ihm das Blut entrissen wurde.

Langsam, schmerzhaft langsam, klärte sich sein Verstand. Das Kreischen und Lachen in seinem Schädel wurde zusammen mit allerlei aufgewirbelten Erinnerungen in den Hintergrund gedrängt. Er wusste nicht, was ihn in diese Lage gebracht hatte, wusste nicht, warum er mit grenzenloser Wut zitterte und es war ihm in diesem Moment auch egal. Was ihn kümmerte – dass einzige, was in dieser Welt aus Blut und Tod und Schmerz einen Sinn hatte – war Leonora, die wie tot am anderen Ende des Platzes lag.

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