Jäger und Gejagte

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Das Stadttor

Waagen, Harzgebirge

08.11.2158, 07:28 Uhr, Ehemaliges Deutschland


Es war bitterkalt auf den Stadtmauern von Waagen. Das Unwetter hatte das Land mit seinem sauren Regen reingewaschen, nur um es in den folgenden Tagen erneut in ein Leichentuch aus Schnee und Eis zu kleiden. Dicke graue Flocken fielen vom Himmel wie einst die radioaktive Asche nach den nuklearen Feuern der Götterdämmerung. Ein Wind, den man bis in die Knochen spürte, blies vom Osten über das Land und schnitt selbst durch die dickste Schutzkleidung, egal wie viele Pelze man trug.

Auf dem Wehrwall war das Verfluchen der Kälte zu einem kreativem Wettstreit verkommen. Geschichten von Schneemännern und Eisbären, die in Scharen nach Süden migrierten, machten die Runde und ein jeder war sich einig, die Hölle sei nun endlich zugefroren. Einer der Männer beteuerte, es sei sogar kalt genug, dass er zu seiner Frau ins Bett kriechen würde: eine Aussage, die sehr zum Leidwesen des Wachmannes von seinen Kameraden aufgenommen wurde. Schon bald gab es keinen Mann, der nicht darauf aus war, zur Frau des bedauernswerten Wachmannes ins Bett zu kriechen.

Das alltägliche Zittern und Gefrotzel kam nur dann zum Erliegen, wenn die brodelnde Wolkendecke tief genug kam, um mit ihren Ausläufern über das Land und die sogenannte „Stadt in den Wolken" zu streicheln. Die schmutzigen Schlieren brachten einen fauligen Gestank mit sich, der nicht selten dazu führte, dass sich der ein oder andere Wachmann über den Wall erbrach. Doch selbst diese Männer und Frauen hatten immer ein wachsames Auge auf die Ruinen von Wernigerode. Die Nachtbrut wartete nur darauf, dass die Beschützer der Stadt einen Fehler machten.

„Dieses Mistwetter will mir gar nicht gefallen", knurrte der wachhabende Offizier des Tors. Seine grauen Augen glitten missmutig über die Ruinenlandschaft und den Himmel. „Wolken dick wie Blei – perfekt für einen Tagesangriff der Brut."

Der Mann an seiner Seite, ein zwei Meter großer Veränderter mit nur einem einzigen, riesigen Auge auf der Stirn knurrte zustimmend und deutete mit dem Daumen hinter sich. „Sollen wir sie wieder Heim schicken?"

Der Offizier drehte sich um und seufzte. Der Marktplatz jenseits des Tors war trotz der frühen Stunde bereits überfüllt: Händler, Junk-Hunter, eine kleine Karawane und sogar ein Kontingent der Roughnecks. Die Götter des Atoms allein wussten, was die Elite-Truppen des Sicherheitschefs jenseits der Stadtmauern wollten. Alle warteten darauf, dass endlich die Tore geöffnet wurden und sie sich auf den Weg machen konnten.

Der Offizier seufzte. „Nein. Lasst die Brücke runter. Wer dämlich genug ist, bei diesem Wetter zu reisen, verdient es nicht besser."

Das Klirren dicker Ketten schallte kurz darauf über den Marktplatz und galvanisierte die Massen, die sich nur Minuten später über die rostige Trailer-Brücke ergossen wie Eiter, das aus einer Wunde schoss. Sie eilten über den frischen Neuschnee in alle Richtungen davon. Das Trio Soldaten, deren Aufgabe es sein würde, Reisende zu kontrollieren, stellte sich nach dem Exodus auf einen Tag voll von Langeweile ein. Es würde Stunden dauern, bis die ersten Junk-Hunter von ihrer gefährlichen Arbeit zurückkehrten und selbst etwaige Karawanen würden erst zum Ende des Tages hin erscheinen. Umso überraschter waren die drei, als sich ihnen schon bald von der westlichen Straße her eine einsame Figur näherte. Der Fremde saß auf einem roten Plastikschlitten, mühte sich mittels Armstößen über den Schnee und zog einen zweiten Schlitten hinter sich her wie ein Maultier.

„Scheiße. Ein verdammter Krüppel?", murmelte der Jüngste der drei und spuckte aus.

Der Mann an seiner Seite, ein bulliger Veteran von über vierzig Wintern mit nur einem Auge, einem vernarbtem Blumenkohlohr und einer Hand, die nur noch aus Daumen und Zeigefinger bestand, warf ihm einen bösen Blick zu. „Jemand, der noch so grün hinter den Ohren ist, sollte ein bisschen mehr Respekt haben. Also halt die Fresse."

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