Die Brut der Nacht

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Die Nachtbrut quoll aus ihren Tunnellöchern wie Maden aus einer eitrigen Wunde. Große, muskelbepackte Mutanten, die sich trotz ihrer Masse ebenso schnell und leise bewegten wie die hundegroßen Frostspinnen an ihren Seiten. Geschwollene Adern und Sehnen zuckten und tanzten auf den Rücken prankenhafter Hände, welche krude, jedoch tödliche Waffen umklammert hielten: zu Schwertern gehämmerte Stoßstangen, Keulen aus Betonstahl, aus Steinblöcken gefertigte Morgensterne... Nicht wenige der brachialen Mordinstrumente waren geschwärzt durch Schichten angetrockneten Blutes. Ihre weißen Augen glänzten in der Dunkelheit, als die Horde auf die Verteidiger der Stadt zu rannte. Schreie und Gewehrfeuer erfüllten schon bald die Nacht, galten jedoch nicht ihnen. Zumindest noch nicht.

Dies war ihre Chance. Die Chance, ihren Hunger nach Kampf und ihre Bäuche mit dem Fleisch der Schwächlinge zu füllen, die sich ihnen so lange entzogen hatten. Ihre Chance der Allmutter ihre unsterbliche Liebe zu zeigen und ihr genug Opfer darzubieten, dass auch ihr Hunger endlich gestillt werden mochte. Phantomen gleich huschten sie auf die Krieger Waagens zu. Keiner der Schwächlinge sah sie kommen, abgelenkt wie sie waren. Ein Fehler, den sie schon bald mit dem Leben bezahlen würden.

Gohr, der Kriegsherr der Nachtbrut und ein wahres Monster unter seinesgleichen führte einen Kampftrupp von zwei dutzend seiner Elitekrieger und ebenso vielen Frostspinnen an. Ein Heer der Brut, die ihre Heimat in den Tunneln und den Kanalisationsschächten der Ruinenstadt hatte, war ebenfalls im Begriff anzugreifen. Sie hatten lange auf diesen Moment gewartet. Sehr lange. Hatten gelauert auf eine Situation wie diese. Jetzt hing ihr Erfolg nur noch von einer einzigen Sache ab: die Brücke – sie durfte nicht gehoben werden.

Gohr fletschte Zähne, die groß und scharf wie Dolche waren, zu einem bestialischen Grinsen. Die empfindlichen Augen der Nachtbrut tränten im Licht der verdammten Flutlichter auf den Mauern der Stadt und waren ohnehin so gut wie nutzlos, doch ihre anderen Sinne, ihr Gehör, Geschmacks- und Geruchssinn, sowie das empathische Band, dass ihn mit seinen Brüdern und Schwestern verbannt, machten diesen Nachteil mehr als wett. Sie sahen die Welt mehr wie eine Fledermaus es vermochte und waren in der Dunkelheit ebenso zu Hause, wie Spinnen es im Netz waren.

Er sog die kalte Luft mit all ihren vielsagenden Düften tief in seinen massiven Brustkorb und steuerte auf den ersten schwächlichen Stadtverteidiger zu, der zwischen ihm und der Brücke war. Mit einer Größe von über dreieinhalb Metern und einem Gewicht von mehr als zwei Tonnen bot Gohr einen furchteinflößenden Anblick. Er trug eine Kette mit den Schädeln seiner erschlagenen Feinde um den immensen Bullennacken, sowie eine weitere um seine Hüfte – ein unwiderlegbarer Beweis seiner Stärke im Kampf. Gewaltige Muskeln arbeiteten unter weißem, mit Narben übersätem Fleisch, als sich seine Pranke noch fester um den Griff seiner enormen Axt schloss, ein Ungetüm deren Klinge aus einem angeschliffenen Kanaldeckel bestand.

Der erste Stadt-Verteidiger starb, ohne je zu erfahren was ihn getötet hatte. Gohrs Axt hieb seinen lächerlich schwachen Körper entzwei und schleuderte ihn in Stücken durch die Luft. Der nächste Stadtverteidiger taumelte rücklings auf ihn zu und drehte sich erst um, als der riesige Mutant über ihm auftürmte. Er hatte noch einen Moment überrascht drein zu blicken, bevor Gohrs Sichelhand in seinen Bauch fuhr und ihn von Nabel bis Kinn aufschlitzte.

Das Monstrum eilte weiter, sein so gut wie blindes Auge auf die Brücke gerichtet. Für das Töten blieb noch genug Zeit. Was jetzt zählte, war den Fluss zu überqueren und die schwächlichen Krieger auf der anderen Seite zu vernichten. Ansonsten würden diese den stählernen Pfad heben und Donner vom Himmel fallen lassen, wie schon so oft zuvor. Donner, der ihm erst vor kurzem seine rechte Hand gekostet hatte. Wieder erklang das Stakkato-Hämmern der Waffen ihrer Feinde, doch wie zuvor war die Nachtbrut nicht Ziel des Angriffs.

Diese Narren!

Der Tod wandelte unter ihnen und sie merkten es nicht einmal. Der nächste Stadtkrieger starb mit einem stillen Schrei auf den Lippen, als er im letzten Moment herumfuhr und ihm Gohrs Sichelklinge den Kopf absäbelte. Seine Krieger fächerten links und rechts neben dem Kriegsherren aus, begierig ihre Waffen ebenfalls mit dem süßen Lebenselixier ihrer schwächlichen Feinde zu benetzen. Das nächste Blut, das jedoch vergossen wurde, war nicht rot, sondern weiß. Der Schädel eines Brut-Kriegers neben Gohr detonierte und milchiges Blut und graue Gehirnmasse spritzte auf seinen breiten Brustkorb.

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