Der Zerstörer

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Es war, als würde sich ein Tor in die Hölle öffnen. Flammen erhoben sich brüllend in den Nachthimmel und von einem Moment zum nächsten wandelte sich die verzweifelte Schlacht vor den Stadttoren in eine Szene aus Dantes Inferno.

Ein wildes Grinsen legte sich über Hels Züge. Gretchen hat es also geschafft.

Brennendes Öl floss aus dem lodernden Ort der Verdammnis und wob flammende Bäche in den tosenden Fluss. Zwei oder drei Nachtbrutkrieger – reduziert zu lebendigen Fackeln – schafften es sich durch den schnell kleiner werdenden Spalt zwischen Brücke und Wehrwall zu quetschen um sich in den Fluss zu stürzen. Der Rest verging im Walölgeborenen Höllenfeuer und wurde eins mit dem schwarzen Rauch, der sich dem Himmel entgegenstreckte.

Hel wandte ihren Blick wieder dem Schlachtfeld zu und fand den Anblick ausgesprochen lieblich. Menschen, Monster und Dämonen: sie alle kämpften miteinander, rissen sich in Stücke, starben als sie einander umschlungen hielten. Dies waren die Momente, für die sie lebte. Dies waren die Augenblicke, in denen sie sich wahrlich lebendig fühlte. Dieser wundervolle Tanz von Leben und Tod, ausgeführt seit den ersten Tagen der Menschheit, hatte etwas zutiefst magisches an sich.

Sie spähte erneut durch das Zielfernrohr, zwang ihr frohlockendes Herz langsamer zu schlagen. Die Nachtbrut hatte ihr defensives Verhalten schon lange aufgeben müssen, als einer der Überlebenden des Rettungstrupps die richtige Idee gehabt hatte und das Monster dazu brachte die bleichen Mutanten anzugreifen. Der Umstand, dass die lebendige Dunkelheit die Nachtbrut fast ebenso leicht zerriss wie ihre Leute, hatte den Überlebenden Zeit gegeben einen Gegenangriff zu starten.

Eine weitere Explosion erhellte die Nacht. Erdreich und weißes Fleisch wurden in die Luft geschleudert, als eine Granate einen weiteren Nachtbrut-Tunnel in die Luft jagte. Mehr als die Hälfte der Löcher war bereits verschlossen. Besser noch: Die Nachtbrutkrieger schienen zunehmend daran interessiert ihre Kräfte mit der Bestie zu messen, statt mit den Verteidigern der Stadt.

„Gut", hauchte Hel. „Sehr gut."

Sie drückte ab, Hécate brüllte und ein weiteres 12.7 mm Geschoss raste mit 853 Metern pro Sekunde und einer Geschossenergie von über 15.000 Joule auf ihr Ziel zu. Obwohl es sich „nur" um eine ihrer Standardpatronen handelte, war der Effekt nicht minder beeindruckend als bei einem ihrer panzerbrechenden Explosivgeschosse. Der Nachtbrutkrieger, der im Begriff gewesen war einen Speer auf einen ihrer Männer zu schleudern, wurde seitlich in die Brust getroffen. Sein abgetrennter Arm flog sechs Meter in eine Richtung, der blutige Rest von ihm fünf Meter in die andere. Sie sichtete erneut und hatte das Ding, dass einst Anskar war für eine Sekunde voll im Visier. Es war fast, als hätte jemand tief in den Abgrund der menschlichen Urängste gegriffen und etwas daraus hervorgeholt. Etwas Wundersames und zutiefst Schreckliches. Das Ding war gewachsen – und wuchs immer noch, je mehr es verschlang. Es bewegte sich über das Schlachtfeld wie ein lebendig gewordener Alptraum.

Groß und massiv hatte es eine hundeartige Form angenommen und bewegte sich in Sprüngen auf allen vieren über das Schlachtfeld. Teile seines Körpers und der Glieder, wenn man diese überhaupt so nennen konnte, waren aus dem Fleisch seiner getöteten Opfer gebildet. Es war fast, als hätte ein dementer Puppenmacher ein Monster geschaffen, indem er die Gliedmaßen von kleineren Marionetten zu einem dämonischen Ganzen zusammennähte. Der Körper des Dings war aus Torsos und zerrissenen Leichen geformt und Arme und Beine standen in schiefen Winkeln hervor, wie die Borsten eines mutierten Stachelschweins. Bündel aus weiteren Armen und Beinen bildeten neue, stärkere Glieder und die schwarzen Tentakel zogen sich wie Flüsse durch das geraubte Fleisch und hielten alles zusammen. Das unheimlichste waren jedoch die Augen: Dutzende, eingebettet in der Dunkelheit wie Sterne am Nachthimmel. Hel konnte sie immer nur für einen kurzen Moment sehen, wenn das Ding innehielt, doch sie hätte schwören können es waren menschliche Augen, die milchig-blinden der Nachtbrut, selbst die silbernen der Frostspinnen. Sie alle blickten irr umher. Fenster zu Seelen, die in einer lebenden Hölle gefangen waren. Hel war sich sicher, dass sie wohl auch die Augen ihrer Männer darin finden würde. Trotz allem hatte das Monstrum noch immer keinen Kopf, nur diesen alles verschlingenden Schlund an der Vorderseite des massiven Torsos.

ARCHETYPE 2.0Where stories live. Discover now