🔥 26. Kapitel

297 31 3
                                    

Die aufgehende Sonne blendete mich. Es war die sechste Sonne, die seit dem Sturm aufgegangen war. In den letzten Tagen hatten wir kein Schiff aus Rivercore und auch sonst kein Schiff ausmachen können. Vermutlich hatte der Sturm sie doch heftiger getroffen, als wir erwartet hatten. Obwohl ich es nicht tun sollte, machte ich mir dennoch etwas Gedanken. Schließlich waren dort auf diesem Schiff Menschen. Ich konnte nicht so herzlos sein. Nicht so herzlos wie andere. Vielleicht sollte ich es auch gar nicht erst versuchen. Müde rieb ich mir über die Augen und erhob mich langsam von Gwaines Brust, der mir seit dem Sturm jeden Abend eine Geschichte erzählte, damit ich mit dem wohligen Klang seiner Stimme einschlafen konnte. In den letzten Tagen hatte ich nämlich vor Aufregung nicht einschlafen können. Gestern hatte er mir eine Geschichte von einem kleinen Jungen erzählt. Seine Geschichten änderten sich immer wieder, doch immer war ein Schiff dabei gewesen, so wie ich ihn darum gebeten hatte. Ein kleines Lächeln legte sich auf meine Lippen, als ich jetzt auf den schlafenden Gwaine hinunterblickte. In den letzten Tagen hatten wir kaum Privatsphäre gehabt, weswegen es nicht viel zu erzählen gab. Ab und an hatte er mir einen kleinen Kuss gestohlen, der nicht mal eine Sekunde gedauert hatte. Der Bartschatten auf seinem Kiefer war dichter geworden, was ich jetzt im goldenen Licht der Sonne sah.

Das Gefühl von Zuhause machte sich in mir breit, als ich ihn betrachtete. Ein Gefühl, was mir vor guten sechs Tagen genommen worden war, doch jetzt wieder seinen Platz in meinem Herzen zurückeroberte. Als ich mich jetzt umwandte, erstarrte ich. Vor mir erkannte ich Land. Weit und breit war nur Land zu sehen. Der Horizont war für mich zum ersten Mal von Land erfüllte und nicht von grenzenlosem Wasser. Erstaunt klappte mir der Mund auf. Noch immer konnte ich nicht glauben, was ich dort vor mir sah. Es war das Festland. Meine Heimat. Meine eigentliche Heimat. Rivercore würde immer ein Teil meines Herzens sein, doch eine Heimat war es für mich nicht mehr. Dafür hatte der König gesorgt. Nicht nur, dass er mich so lange angelogen hatte, er wollte die Drachen loswerden. Einfach so. Als wären sie die Verbrecher. Doch das waren sie nicht. Wütend ballte ich die Hand zur Faust. Doch dann ließ ich mich von dem Anblick vor mir blenden. Das Land wurde in ein goldenes Licht getaucht. Es war noch eher ein Schemen, doch bald würden wir das Festland erreichen. Von hier aus konnte ich Berge sehen. Freiheit durchflutete mich, nahm mich vollkommen ein. Es nahm mich in Besitz und gab mich nicht mehr frei. Verdrängte jeden Gedanken an Rivercore und gab mir nur noch dies, den Anblick, der sich mir bot.

Noch nie in meinem Leben hatte ich so etwas gesehen. Bis jetzt war mein Ausblick immer von der angeblichen endlosen Weite des Ozeans befüllt wurden. Doch jetzt sah ich das erste Mal Festland und konnte es noch gar nicht glauben. Es war viel größer als unsere Insel. Dabei wusste ich, dass es dort, wohin mein Blick nicht reichte, noch weiter ging. Es würde immer weiter gehen. Bis auch das Festland mal seine Grenzen kannte. Meine spröden Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Ich genoss den Wind, der meine Haut sanft umschmeichelte und mir eine Strähne in den Nacken wehte. Wie von selbst glitt mein Blick über das Meer, das aalglatt war. Es war keine einzige Welle zu sehen, nur die Bewegungen, die das Schiff erzeugte. An manchen Stellen war es rau, da dort der Wind hinüberfegte. Zum ersten Mal seit unserem Aufbruch sah ich glattes Meer. Es wirkte eher wie ein See. Mit großer Gelassenheit blieb ich auf dem Deck stehen und stützte meine Arme auf die Brüstung. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen. Sog den Geruch von Salz und Meer in mich auf. Genoss den Wind in meinem Haar und auf meiner Haut. Das hier... war... es war wunderbar. Wunderschön. Zauberhaft. Wie in einem Märchen. Ein Märchen, dass in meinen Augen nie enden sollte. Im nächsten Moment stellte sich jemand neben mich. Ich musste nicht einmal zweimal hinsehen um zu wissen, dass Gwaine neben mir stand.

Vermutlich war er aufgewacht. Gwaine war leicht aus dem Schlaf zu reißen. Er merkte sofort, wenn ich nicht mehr bei ihm war. »Genießt du die Aussicht?«, fragte er mich leise. Langsam öffnete ich die Augen wieder und wandte mich ihm zu. »Ja. Es ist wunderschön. Obwohl ich das weite Meer schöner finde, ist es doch eine angenehme Abwechslung, einmal im Leben Festland zu sehen. Vom Meer aus«, meinte ich und wandte mich dann wieder dem Anblick zu. Gwaine tat es mir nach, legte aber seine Hand auf meine. »Es freut mich, dass es dir so gefällt. Ich hatte gehofft, dass es dir gefallen würde. Vom Strand aus müssen wir aber noch reiten beziehungsweise fliegen. Ich hoffe, dass sie uns bis dahin nicht erreichen«, meinte er. Als er die Worte aussprach, wandte ich mich um und lief zu unserem Schlaflager, wo ich immer einen Apfel für Diabolo lagerte. Diesen schnappte ich mir, da ich mir sicher war, dass mein Rappe bereits wach war. »Du gehst ihn füttern? Jetzt schon?«, fragte Gwaine mich und sah mich etwas schmollend aber auch noch etwas verschlafen an. »Ja, jetzt schon. Ich komm ja gleich wieder.« Damit machte ich mich auf zu meinem Rappen. Die Dielen des Schiffes knarzten unter meinen Schritten. Die letzten Tage hatten doch ganz schön an dem Schiff gezerrt. Ich ignorierte das Knarzen und lief weiter. Kurz darauf stand ich vor meinem Rappen, der neugierig den Blick hob und mich ansah.

Broken Wings ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt