2 - Diabeteskaffee

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2 WOCHEN SPÄTER

Montage gehörten verboten. Dieser Meinung war ich schon immer. Vor allem wenn es dann auch noch kalt und dunkel war. Außerdem hatte ich nur noch Kontaktlinsen mit einer zu schwachen Dioptrie zuhause gehabt da ich es mal wieder versäumt hatte neue zu bestellen. Diese Kombination aus Montag, kalt, dunkel und schlechtem sehen war die reinste Ausgeburt der Hölle. Warum konnte das Wochenende auch nicht ein wenig länger sein? Auch wenn ich an  normalerweise nichts Himmelschreiendes anstellte, liebte ich sie. Den ganzen Tag in Jogginghosen zu gammeln, beim Chinesen etwas bestellen und so lange Netflix zu schauen bis es fragte ob man noch da war. Da Tom samstags meistens arbeitete verschanzen El und ich uns oft Freitagabends in ihrer kleinen Wohnung in Islington. Da meine beste Freundin aus einer ziemlich reichen Familie kam, bewohnte sie die Wohnung ganz alleine und ich beneidete sie darum. Zu meinem Leid wohnte ich noch immer bei meinen Eltern in Brixton, etwas außerhalb des Zentrums. Tom hatte dieses Wochenende seine Familie in Manchester besucht. Seine Mutter mochte mich nicht besonders, darum war ich lieber mit El auf ihrer Couch geblieben statt mitzufahren. Von mir aus hätte es also auch noch einen Tag länger andauern können, auch wenn ich es schade fand Tom nicht gesehen zu haben. 

Ich wickelte meinen Mantel enger um mich und war froh endlich in den kleinen Kaffeeladen einzutreten in dem ich jeden Morgen standesgemäß Kaffee für meinen Chef holte. Wenn man das Milchgetränk mit viel braunem Zucker und noch mehr Karamellsirup überhaupt so nennen durfte. Wenn man mich fragte würde Mr. Lee davon irgendwann Diabetes bekommen, aber das war ihm anscheinend egal.
„Hey Jane, wie immer?", grüßte mich die Besitzerin Lindy wie beinahe jeden Morgen da sie meine Bestellung bereits kannte. Fünf Minuten später war ich mit der Diabetesbombe und einen normalen Milchkaffee für mich in der Hand auf dem Weg ins Büro. Dabei verbrannte ich mir natürlich die Zunge an meinem Kaffee. Leise fluchend pustete ich in den Becher. An einer roten Ampel blieb ich stehen und beobachtete meine Mitmenschen. So ziemlich alle sahen ebenso begeistert aus wie ich. Fast alle. Ein Mann stand etwas abseits und hielt eine Blondine im Arm. Ich ließ den Kaffee sinken und kniff die Augen zusammen. Der Mann kam mir bekannt vor, aber ich konnte es nicht genau erkennen. Mir fehlte einfach diese halbe Dioptrie. Er tippte auf seinem Handy herum und die Haltung war mir irgendwie vertraut. Außerdem war ich mir ganz sicher seine Jacke schon einmal gesehen zu haben. Warum musste meine Ampel auch so lange rot sein? Gerade als sie endlich auf grün umsprang begriff ich wo ich die Jacke schon einmal gesehen hatte: An Tom, meinem Freund.
Meine Becher wären mir beinahe aus der Hand gefallen. Ich sah den Mann genauer an und verfluchte mich erneut das ich nicht einfach meine Brille angezogen hatte. Aber ich war einfach zu unbegabt damit. Immerzu fasste ich mir an die Gläser oder sie fiel mir runter. Ich setzte mich in Bewegung um zu sehen ob es sich tatsächlich um meinen Freund handelte. Doch je näher ich kam, desto unsicherer wurde ich. Tom trug immer einen Anzug zur Arbeit.
Immer.
Dieser Mann trug Jeans.
Eine lässige Jeans im Used-look mit Fransen – so etwas würde mein Tom auf gar keinen Fall tragen. Dafür war er sich viel zu fein, was mich manchmal ein wenig störte. Denn wenn es nach ihm ging durfte ich nicht mal in Jogginghosen kurz zum Supermarkt. Was sollten da die Nachbarn denken? Das war schon lange ein Streitthema von uns, da ich das überhaupt nicht einsehen wollte und meine Jogginghose heiß und innig liebte.
Ich betrachtete den Mann genauer. Da heute Montag war, arbeitete Tom auf jeden Fall. Was also sollte er im vollkommen falschen Stadtteil Londons machen, noch dazu in einer Jeans im Used-Look? Die Brille mitten in seinem Gesicht machte den Rest. Zwar konnte ich sein Gesicht nicht genau erkennen, aber die Brille und die Hose waren Beweis genug. Tom Bell hatte perfektes Augenlicht und erzählte dies auch jedem welcher es nicht wissen wollte. Während ich meine Gedanken ordnete, fuhr ein Taxi zu und sammelte das Pärchen ein. Verwirrt blieb ich einige Sekunden stehen und sah dem Taxi hinterher. Noch immer wurde ich das Gefühl nicht los den Mann trotz allem gekannt zu haben. Sollte ich Tom anrufen? Ich schüttelte den Kopf. Es war nur mein Vertrauensproblem.
Warum ich immer sofort misstrauisch wurde und das Gefühl hatte das er etwas vor mir verbarg, konnte ich nicht erklären. Er hatte mir noch nie einen Grund dazu gegeben. Ja natürlich, er arbeitete oft lange und musste manchmal auch wegen Verhandlungen am Wochenende in die Kanzlei, aber das war auch verständlich. Er wollte sich in seinem Beruf als Anwalt schließlich auch einen Namen machen, genau wie ich in meinem. Schnell versuchte ich die dummen Gedanken abzuschütteln und nippte an meinem Kaffee. Als ich mir zum zweiten Mal an diesem Tag die Zunge verbrannte, kam ich zu mir.
Nein.
Ich steckte das Handy zurück in die Manteltasche. Nein ich würde ihn nicht anrufen. Ich atmete tief durch und brauchte die benutzte Luft um meinen Kaffee zu kühlen. Ich wusste wirklich nicht warum ich mich manchmal wie ein Psychopath aufführte wenn es um Tom ging. Ich musste daran arbeiten ihm zu vertrauen. Zwar plädierte meine Mutter immer darauf dass man auf sein Bauchgefühl hören sollte, aber in diesem Fall war ich mir sicher dass mein Bauch sich irrte. Bestimmt setzte ich mich wieder in Bewegung und begab mich in die Höhle des Löwen. Der Löwe wartete nämlich auf seinen Kaffee.

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