Kapitel 1

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Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. (Marcus Tullius Cicero)


Die Hitze brütete über den alten Steinen.

Kira kniete mit der Spitzkelle in der Hand an einer der niedrigen Mauern im Staub und fuhr sich zum hundertsten Mal an diesem Nachmittag über die verschwitzte Stirn.

Auch das helle Sonnensegel über dem rechteckig abgesteckten Teil des Ausgrabungsfelds, in dem sie gerade arbeitete, brachte nicht wirklich Linderung.

Vielleicht hätte ich mich doch lieber für das archäologische Projekt in Island entscheiden sollen, dachte sie innerlich grinsend, während sie ein Stück Basaltgestein entfernte. Da würde ich jetzt wahrscheinlich in luftig frischer Meeresbrise ein Wikingerschiff ausgraben oder auf einem Pony am Strand entlanggaloppieren ... Stattdessen hocke ich hier in diesem Backofen und verwandle mich langsam aber sicher in ein Brot mit brauner Knusperschicht ...

Himmel, sie fing an, dummes Zeug zu fantasieren. Diese Hitze hier raubte ihr den letzten Verstand! Vielleicht wäre es doch besser, zu den anderen in der Baracke hinüberzugehen, zumal die wahrscheinlich schon bei eisgekühlter Limonciata das Abschiedsfest des Camps planten. Aber sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dieses Stück Mauer heute fertig zu kriegen, nur noch dieses eine kleine Stück!

Trotzig kratzte sie weiter an dem Basaltstein herum, während sie versuchte, die Bilder von frischen Getränken und klimatisierten Innenräumen aus ihrer Vorstellung zu verbannen.

Mammina sagte immer, dass sie mit ihrer Dickköpfigkeit noch irgendwann eine Wand einrennen würde. Und vielleicht hatte ihre Mutter auch Recht damit. Allerdings hatte Mammina auch keine Ahnung davon, wie unglaublich aufregend es war, hier in Pompeji die Vergangenheit auszugraben! In Pompeji, der wichtigsten Ausgrabungsstätte der Welt!! Wenn Mammina hier wäre, würde sie sie wahrscheinlich nur dafür ausschelten, dass sie hier wie in einer finnischen Sauna dahockte und stur weiter Steine klopfte. Backofen, Knusperbrot, finnische Sauna ..., sie würde heute noch einen Rekord an hitzigen Assoziationen aufstellen, wenn sie hier weitermachte!

Tatsächlich war sie mittlerweile die Einzige, die die Kelle noch nicht aus der Hand gelegt hatte. Alle anderen waren der Hitze schon entflohen. Aber man muss an das glauben, was man tut – und ab und zu etwas aufmüpfig sein! (*), dachte sie in einer Aufwallung aus Halsstarrigkeit und verschmitztem Spott und überlegte, wo es wohl gewesen war, dass sie dieses Zitat gehört hatte. Vielleicht war es aus ihrem kleinen 365-Seiten-Kalender, der Zuhause auf dem Schreibtisch in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim stand und sicher seit drei Wochen nicht mehr entblättert worden war? Denn ihre beste Freundin Joella goss zu Hause zwar pflichtgetreu ihre Blumen, schließlich hatte sie ihr die besonders


* Zitat von Hildegard Knef (1925-2002))

ans Herz gelegt, aber das kleine Detail der Kalenderblätter würde sie garantiert vergessen. Sie musste grinsen. Joella, ihre fröhliche, immer gutgelaunte Art, ihre leckeren Rezeptideen und sogar ihre ständigen nervigen Haarpflege- und Frisurentipps fehlten ihr. Sie verstand nicht wirklich, warum Biotinshampoos, Repair-Haarmasken, Conditioner und andere Pflegeprodukte ihre Freundin so begeisterten. Sie selbst kümmerte es nicht, wie viele Vitamine und Aufbaustoffe in einem Shampoo waren. Hauptsache, es roch gut. Sie mochte es einfach und unkompliziert sein. Morgens kämmte sie ihre Haare, band sie zu einem Pferdeschwanz oder Dutt zusammen - und fertig! Es ging darum, dass es praktisch war. Bei Ausgrabungen in Pompeji musste man weder toll gestylt sein noch wie ein Parfümfläschchen duften. Was hier zählte, waren Anstrengungsbereitschaft, eine zupackende Art und ein gewisses Durchhaltevermögen. Grimmig scharrte sie weiter an der alten Mauer herum.

Im Schatten des PhönixWhere stories live. Discover now