Kapitel 28

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Lian? Ein Keuchen entfuhr ihr, ein ersticktes Röcheln wie das eines strangulierten Serienmörders. Ihre Nervenkraft zerbröselte wie berstendes Glas. Zu dem Gefühl von Verwirrung kam Ungläubigkeit. Tausend Gedanken stürzten auf sie ein, sie ballte die Hände zu Fäusten, krallte ihre Fingernägel in die Handflächen, um dem Ausmaß ihrer Fassungslosigkeit Einhalt zu bieten. Lian war Albiels Sohn.

Er musste äußerlich viel von seiner Mutter haben. Wie hatte sie nochmal geheißen? Cecilia. Es war ein Schock. Magnus hatte sie also umgebracht, als sie aus der Organisation der Scuros austreten und fliehen wollte. Deshalb war ihr Bodyguard immer so misstrauisch und wachsam gewesen. Er hatte den Mordanschlag überlebt, seinen Tod vorgetäuscht und war dann von der Bildfläche verschwunden. Und seinen Sohn hatte er zurückgelassen. Warum hatte er ihm keine Nachricht zukommen lassen? Hätte es Lian in Gefahr gebracht? Es war unglaublich. Unglaublich und unfassbar. Was mussten sie gelitten haben, sowohl der Vater als auch der Sohn. Albiel hatte seine Frau verloren, umgebracht von ihrem eigenen Bruder. In der Tat, Magnus war ein gefühlloser, mitleidloser Mörder.

Und Lian? Es trieb ihr die Tränen in die Augen, wenn sie daran dachte, was er durchgemacht hatte. Man hatte ihm erzählt, dass beide Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Von einem Tag auf den anderen war er Vollwaise. Im selben Moment wurde ihr klar, dass er damit leichter zu beeinflussen gewesen war als jeder andere. Er hatte niemanden mehr gehabt außer diesem verdammten Onkel, der ihn perfide und hinterhältig dahingehend indoktriniert hatte, dass Lian die Organisation irgendwann als Familie ansah. Im Glauben, dass seine Eltern Mitglieder der Scuros waren, war er von der Organisation benutzt worden. Diese verdammte Gemeinschaft der Scuros hatte ihn sich gekrallt.

Es gab so viele Fragen! Sicher war Lian bei der Beerdigung gewesen. Aber vom Vater hatte ja jede Spur gefehlt! Wie kam es, dass Lian geglaubt hatte, seine Eltern seien beide tot? Hatten die Scuros etwa einen leeren Sarg untergejubelt? Was hatten sie ihm erzählt? Kein Wunder hatte Lian immer wieder düstere Anwandlungen! Und sein fanatischer Onkel hatte den Guten gespielt, hatte ihn nach seinen Vorstellungen instruiert und beeinflusst. Er hatte ihn zu einem Scuro gemacht. Das hatte er selbst gesagt. Was für ein Irrsinn!

Und Albiel hatte nichts davon gewusst. Warum hatte er nicht versucht, seinen Sohn zu sich zu holen? Welcher Vater ließ sein Kind im Glauben, dass er tot war? Magnus hatte dadurch entschieden leichteres Spiel gehabt.

Wenn Lian Albiels Sohn war, so wurde ihr im nächsten Moment klar, bedeutete dies, dass Lian mehrere Monate in dem Glauben gelebt hatte, ein Waise zu sein. Immer noch ging er davon aus, dass seine Eltern beide gestorben waren. Sie wusste gerade mehr als er. Was musste er gelitten haben. Tränen schossen ihr in die Augen, verschleierten ihren Blick. Er hatte von einem Tag auf den anderen seine Eltern verloren. Wenn Mammina und Papa plötzlich sterben würden, würde ihr das den Boden unter den Füßen wegreißen, das wusste sie. Und ihr wahrscheinlich das letzte bisschen Kindsein rauben. Was für ein Alptraum!

„Tststs", machte Lians Onkel und es klang beinahe gelangweilt. „Es ist wirklich schade um den Jungen. Er war ein guter Mitarbeiter." Dann wurde sein Tonfall bedrohlich. „Eins hat Lian aber vergessen. Man hintergeht die Scuros nicht. Indem er dir geholfen hat, hat er Verrat in den eigenen Reihen begangen. Wir werden ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Es wird ihn teuer zu stehen kommen."

„Was wird mit Lian passieren?", fragte sie hastig. Sie musste es wissen.

„Das wird Korbinian entscheiden. Normalerweise fackelt er nicht lange und macht kurzen Prozess. Wir sind kurz davor, wichtige Ämter in der Regierung, der Justiz und dem Bildungswesen an uns zu reißen. Da werdet ihr uns jetzt nicht in die Quere kommen!"

Sie spürte, wie ihr Kiefer verkrampfte. Lian war ein Bastard, ja. Jetzt aber hörte es sich an, als würde er dafür sterben müssen. Ihre Knie waren plötzlich butterweich.

Im Schatten des PhönixWhere stories live. Discover now