Kapitel 29

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Joella starrte sie an. „Heiliges Kanonenrohr, das ist nicht dein Ernst! War deine Oma eine Lichthüterin? Oder wie kommt die Münze sonst dorthin?" Gedankenverloren fuhr Joella mit ihren Fingern durch die Lache des verschütteten Wassers. Nasse Kreise entstanden auf dem Holz des Tisches. Kira schaute abwesend darauf. „Es gab keine weiblichen Lichthüterinnen. Hat Simeon gesagt", erwiderte sie nachdenklich.

„Okay, Heilige haben immer Recht, nehme ich an ... Dann war sie wohl anders in die Sache verstrickt. Das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren."

„Tun wir nicht. Wir haben ja gerade sonst nichts anderes zu tun."

„War das jetzt ironisch?"

„Die Frage ist, wie die Münze dorthin kam", erwiderte Kira, ohne auf Joellas Frage einzugehen. Nervös fuhr sie sich durch die goldenen Haarsträhnen. Hatte jemand gewollt, dass sie die Münze fand? Hatte jemand sie ihr untergejubelt? Aber sie war damals ein kleines Kind gewesen! Es konnte doch nicht sein, dass jemand das alles geplant hatte, oder? Was war Schicksal, was Zufall? Hoffentlich hielt da nicht irgendjemand die Fäden in der Hand!

„Ich sehe mich ungern als Marionette ...", murmelte sie vor sich hin.

„Glaubst du, du hast das Phönix-Ei nur ausgegraben, weil du früher diese Münze gefunden hast?", fragte Joella und betonte dabei jede Silbe. „Ich meine ... war es dein Schicksal, sie zu finden?"

Kira schwirrte der Kopf. Sie fühlte sich müde, kaputt und vor allem überfordert. Bevor sie etwas Ordnung in ihre Gedanken bringen konnte, kam Lian zurück. Seine Haare hingen ihm in die Stirn, er strich sie nicht zur Seite. Es sah aus, als hätte er wieder geweint.

Joella betrachtete ihn mitfühlend. „Geht es dir gut?", fragte sie ihn.

Lian sah auf, seine Augen waren gerötet. „Es geht schon", murmelte er. „Ich hoffe nur, mein Vater kommt da heil raus." Kira spürte, dass seine Nerven blank lagen. Eine plötzliche Unruhe erfasste auch sie. Wenn Albiel nun etwas zustieß? Lian hatte seinen Vater erst gerade wiedergefunden, - was musste er jetzt für Ängste ausstehen! Beinahe ergriff sie Mitleid.

„Albiel und Simeon sind sicher gleich da", brummte sie und wickelte eine ihrer goldenen Haarsträhnen um den Finger. Sie war nervös, und sie merkte, dass Lian es aufgefallen war. Er kannte sie gut. Als sie seinen Blick auffing, ließ sie die Haarsträhne in ihren Fingern abrupt fahren, stand auf und ging zu Phoe, um nach ihm zu schauen. „Ich sehne mich nach einer heißen Dusche. Damit ich mir diese goldenen Tätowierungen und das lächerliche Haarspray abwaschen kann", murmelte sie. Probehalber rubbelte sie über ihren Handrücken, doch die goldenen Linien schienen fest mit ihrer Haut verschmolzen zu sein. Sie schaute kurz zurück. „Notfalls färbe ich mir die Haare, wenn es nicht abgeht."

„Es sieht nicht mal schlecht aus", sagte Lian leise und schlug den Blick nieder.

Kira stieß ein Grunzen aus, das eine Mischung aus Verdrossenheit und Unbehagen war.
*


Die Zeit bis zu Simeon und Albiels Eintreffen verstrich für alle zermürbend langsam. Joella war mittlerweile über den Tisch gesunken und schlief, Jonathan hantierte in der angrenzenden Küche mit Besteck und Geschirr und Kira hockte schläfrig neben dem Phönix. Sie wollte der Müdigkeit nicht nachgeben, da ihr Phoes Zustand Sorgen bereitete, doch sie konnte es nicht verhindern, dass auch ihr immer wieder die Augen zufielen.

Der Einzige, der keinerlei Anzeichen von Erschöpfung zeigte, war Lian. Er hatte sich so gesetzt, dass er die Tür im Blick hatte und saß dort wie hingeschmiedet, ohne seinen Blick auch nur einen Zentimeter vom Eingang zu wenden. Er wirkte so konzentriert, dass Kira das Gefühl hatte, jedes Wort, das man ihn richtete, würde ungehört an ihm abprallen wie ein Federball vom Schläger. In ihr brodelten tausend Fragen, aber ein diffuses Gefühl von Wut, Verbitterung und Gekränktheit hinderte sie daran, mit ihm zu reden. Also würde sie ihn wohl in seinem komprimierten Bollwerk aus gesammelter Wachsamkeit und hellhöriger Anspannung lassen.

Im Schatten des PhönixWhere stories live. Discover now