Kapitel 38

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Nach einiger Zeit - die Ziegelwände waren mittlerweile dem nackten Fels gewichen - liefen die Gleise in einem Bogen aus und endeten. Lucius drosselte den Motor. Sie waren angekommen.

Kiras Herz klopfte zum Zerspringen, als sie vom Wagon sprang und die graue Metalltür am Ende der Gleise sah. War dahinter die Cavea? Bilder der von Leichen übersäten Halle, von Rauch und Qualm und dem Phönix in Fesseln geisterten wirr durch ihren Kopf, ihr Magen bildete einen harten Knoten. Sie würde kämpfen müssen.

Joella griff nach ihrem Arm. „Hey, hast du auch solche Angst?" Ihre Stimme zitterte leicht.

„Ich sterbe vor Angst." Kira hatte die Türklinke in der Hand. „Aber Phoe ist da drin", flüsterte sie.

„Wenn ich es richtig verstanden habe, hängt es jetzt unter anderem von uns ab, ob wir die Welt retten können ...", hauchte Joella.

Lucius, der hinter ihnen angelaufen kam, ließ ein leises Knurren hören. „Ich kenne Korbinian nun seit geraumer Zeit. Und ich sage euch - wir müssen ihn ein für alle mal vernichten! Ein Kerl, der es wagt, mich in meiner eigenen Küche mit Chloroform zu schwängern, soll zur Hölle fahren!"

Kira fühlte sich auf einmal so mutlos wie schon lange nicht mehr. Plötzlich sehnte sie sich nach Lian. „Wir sind nur zu dritt", sagte sie. „Korbinian hingegen hat ein Heer an Männern. Wie sollen wir es gegen eine solche Überzahl schaffen?" Die Klinke in ihrer Hand fühlte sich eiskalt an.

Lucius legte die Stirn in Falten. Dann drückte er den Rücken durch. „Pah, das sind Marionetten. Haben wir Korbinian, haben wir alle, glaubt mir. Es sind nur willenlose Puppen, nur hirnlose, damische Hohlköpfe ..." Vor sich hinbrummelnd stieg er von vom Fahrerraum herunter und begab sich zu ihnen.

Wollte Lucius sie nur beruhigen? Sie zweifelte an seinen kombattanten Fähigkeiten. Waren seine Kräfte nicht komplett eingerostet? Sie wusste es nicht. Aber sie wusste, dass sie hier eintreten musste. Sie war die Lichthüterin. Und sie hatte einiges dazugelernt. An diesen Gedanken würde sie sich klammern.

„Was ist unser Plan?", fragte Lucius interessiert.

„Möglichst lange unsichtbar bleiben und erst im letzten Moment zuschlagen?" Kira hatte es hastig ausgesprochen. Dass es als Frage formuliert war, verunsicherte sie selbst. Aber eine Aussage wagte sie nicht zu machen. Schließlich war sie kein militärischer Anführer, oder?

In diesem Moment hörte man durch die Tür den gedämpften, entfernten Schrei von Phoe. Ihr Herz schnürte sich zusammen. Alles Blut wich ihr aus dem Gesicht. Phoes Schrei hallte in ihr nach, es rauschte in ihren Ohren wie von kämpfenden Schwingen. Phoe kämpfte um sein Leben. Sie spürte es.

Sie riss die Tür auf. Kein Zögern mehr.

Hinter der Tür lag noch ein Gang, sie raste ihn entlang. Es war einerlei, was ihre Freunde machten, jetzt war jede Sekunde wertvoll. Sie hatten schon zu viel Zeit verloren. Eine zweite Tür, schwer und dick. Sie stemmte sich dagegen und schlüpfte durch den entstehenden Spalt. Helligkeit blendete. Sie war in der Cavea angekommen.

Sie befand sich an einem der seitlichen Eingänge, nur zwei Geschosse über dem Käfig. Sicher hundert Scuros standen unten auf dem Platz. Ein Meer aus schwarzen Männern. Dann fiel ihr Blick auf Korbinian. Der Mann, der seit Jahrhunderten wie ein Blutsauger das Blut von Feuervögeln trank, um zu leben, der Mann, der sich jetzt wie ein Vampir ihr Blut genommen hatte, um Phoe in einen Dunkelvogel zu transformieren. Da stand er vor dem Käfig, in dem der Feuervogel festgebunden war.

Phoe hing in seinen Fesseln, er schrie und bäumte sich auf. Der Anblick erfüllte sie mit Entsetzen. Ihr Blick wanderte über seine Flügel und da sah sie es. Das Blut gefror ihr in den Adern. Seine Flügel waren schon vollständig schwarz. Auch der Rest des Körpers schimmerte nur noch schwach golden.

Im Schatten des PhönixWhere stories live. Discover now