Kapitel 36

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Er hatte es gewusst. Schon morgens beim Aufwachen hatte er ein seltsam ungutes Gefühl gehabt. Das war bei ihm zwar öfters der Fall, vor allem in letzter Zeit, da der Tag der Sommersonnwende immer näher rückte, aber dass es sich nun so unglücklich bestätigen würde, damit hatte er nun doch nicht gerechnet.

Heute hätte ein Training im Zweikampf auf dem Programm gestanden. Die Kleine war besser geworden. Eigentlich war sie so gut, wie er nie gedacht hätte, dass sie mal werden könnte. Das so empfindliche, grillenhafte Mädchen hatte sich zu einer geschickten Kämpferin entwickelt.

Darüber hinaus schien sie den Feuervogel mittlerweile recht gut leiden zu können. Seit der Cavea nahm er eine Veränderung an Kira wahr. Und das waren nicht nur die goldenen Haarsträhnen und die letzten, inzwischen fast verheilten Spuren der Fesseln an ihren Handgelenken. Sie schien ihm überlegter, abgeklärter, vielleicht etwas friedfertiger. Sie war nicht mehr wie ein wildes Kätzchen, das bei jeder unerwarteten Bewegung gleich fauchend die Krallen ausfuhr. Es war, als sei sie ein Stück aus ihrer Kindlichkeit herausgetreten, als hätte sie ein Stück Reife dazugewonnen. Ihm schien es so, als hätte sie jetzt verstanden, worum es eigentlich ging und wie ernst es war. Demungeachtet hatte sie gottlob immer noch das frohe, hoffnungsvolle Gemüt, wie nur die glückliche Seele der Jugend es haben konnte.

Er hatte gemerkt, wie Lian sie ansah. Dass er das Mädchen mochte, merkte man. Nur schien Kira gerade nicht sehr gut auf ihn zu sprechen. Verständlich, nach dem, was sie erlebt hatte.

Wie es in Lian aussah, war schwer zu fassen. Sei Sohn zog sich oft zurück, war nachdenklich und schweigsam. Im Wald bei den drei Schwestern hatten er und Lian lange und ausgiebig miteinander geredet, über das, was ihnen widerfahren war, über die Lichthüter, über Cecilia und ihre Zugehörigkeit zu den Scuros. Er hatte versucht, ihm die Schuldgefühle zu nehmen, wusste aber nicht, ob er auf fruchtbaren Boden gestoßen war. Nur Kira schaffte es hin und wieder, seinem Sohn ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Er war ihr dankbar dafür.

Er ging in den hinteren Teil des Schuppens, wo eine alte Werkbank ihr verstaubes Dasein fristete, um dort nach einem fahrbaren Untersatz zu suchen. Ein rascher Blick rundum. Irgendetwas mit Rädern musste es hier doch geben! Wenn es sein musste, würde er den Mädchen auch mit einer Postkutsche hinterherfahren. Doch außer einer Sammlung an verbogenen Nägeln, einer alten, verrosteten Schraubzwinge und jeder Menge Spinnennetze gab es hier nichts. Er fluchte. Verdammt, es war einen Tag vor der Sommersonnwende, Joella war mit dem Phönix verschwunden und Kira ihr auf dem Fahrrad direkt hinterher, wahrscheinlich unüberlegt und voreilig. Simeon hoffte ja, dass Joella nur aus einer verrückten Laune heraus weggefahren war, dass die zwei Mädchen sich vielleicht gestritten hatten und Kira jetzt auf Versöhnung aus war. Aber ein untrüglicher Instinkt sagte ihm, dass der überstürzte Aufbruch der zwei Mädchen nichts mit einer kriselnden Freundschaft zu tun hatte. Für ihn lag es klar zutage, dass Kira alles daran setzte, ihre Freundin zu verfolgen. Er ahnte nichts Gutes, vielmehr Schlimmes ... Es konnte sich nicht um einen harmlosen Mädchenstreich handeln. Was war in Joella gefahren, dass sie so überstürzt davongefahren war? Es sah ihm ganz nach einer Falle aus.

Bis jetzt war Kiras Freundin ihm ganz in Ordnung vorgekommen. Zwar war Joella etwas direkt und sie hatte dieses verrückt Ausgelassene an sich, mit dem er nur schlecht umgehen konnte, doch hatte er gemerkt, dass sie für Kira immer eine fröhliche und treue Freundin gewesen war. Was also hatte sie dazu bewogen, sich den Phönix zu schnappen und mitzunehmen?

Sie hatten alles nach dem Vogel abgesucht, das Innere der Scheune und den Hof draußen, sie hatten nach ihm gerufen, gepfiffen und die Zweige der umliegenden Äste abgescannt, bis es offenkundig war: der Vogel war weg. Also musste er im Lieferwagen gewesen sein.

Herrgott, es war einen Tag vor der Sommersonnwende! Womöglich hatte Korbinian seine Hände im Spiel ... Wütend hieb er mit der Faust an die Wand des Geräteschuppens. Staub rieselte herunter. Wenn Korbinian hier heimlich die Fäden gezogen hatte, ohne dass er in seiner Funktion als Leibwächter etwas davon bemerkt hatte, würde er sich auf immer und ewig Vorwürfe machen. Denn verdammt, er glaubte zu wissen, wohin Joella fuhr. Sie wollte zur Porta.

Im Schatten des PhönixWo Geschichten leben. Entdecke jetzt