Kapitel 37

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Die sechs Männer schleppten sie mehr als sie sie führten den Raum hinaus und durch eine roséfarbene, marmorverkleidete Eingangshalle, in der mehrere antike, zur Perfektion gemeißelte weiße Statuen standen. Es konnte nur ihr benommener, einer Ohnmacht naher Zustand daran schuld sein, dass es ihr vorkam, als würden die lächelnden marmornen Grazien, an denen sie vorbeikam, sie mit einem Anflug von Mitleid betrachten.

Es ging eine steinerne Treppe hinunter in ein Kellergewölbe, das nach Feuchtigkeit und Weinfässern roch. Die Wände, aus natürlichen, ursprünglich ockerfarbenen und nun recht schmutzigen Feldsteinen, trugen eine niedrige, gewölbte Decke und strahlten eisige Kälte aus. Ihr schwindelte. Der Boden aus gestampfter Erde schien unter ihren Füßen nachzugeben wie Wackelpudding. Oder waren es ihre Beine, die sie zwar noch vorwärtstrugen, sich aber schwankend instabil und unzuverlässig anfühlten?

Sie bekam es nur halb mit, als die Männer vor einem dunklen Gitter anhielten. Da war das Klirren eines Schlüsselbunds, dann wurde eine quietschende Tür aufgestoßen. Sie bekam einen derben Stoß in den Rücken, stolperte nach vorne und fiel hin. Ihre Hände waren noch immer auf den Rücken gefesselt. Hinter ihr rastete das Schloss der Gittertür ein, sie hörte es kaum. Ächzend sah sie auf.

Ein großer, schmaler Mann, etwa um die Fünfzig und in eine lange, weiße Tunika gehüllt, kam auf sie zu. Um seinen Hals lag eine feine, goldene Kette, an seinen Handgelenken klimperten Armreife.

Hinter ihm tauchte Joella auf und stürzte zu ihr. „Kira! Du bist verletzt!", rief sie so laut an ihrem Ohr, dass Kiras Benommenheit ein Stück weit wich.

Joella. Erleichterung erfasste sie. Ihre Freundin war eingesperrt wie sie, aber Himmel, immerhin war sie am Leben! Anscheinend war sie sogar in besserer Verfassung als sie selbst. Das merkte sie daran, dass ihre Freundin eifrig an den Tüchern an ihren Händen herumfummelte und sich dann direkt daran machte, ihre Fesseln zu lösen. Der Mann, der bei ihr war, näherte sich. Er reichte ihr die Hand und zog sie hoch.

„Na, da haben wir ja noch so ein hübsches Herzchen!", rief er und klang recht zufrieden. „Korbinian denkt auch an alles, sogar daran, diese Eintönigkeit hier unten und meine Langeweile zu befriedigen!"

Verwirrt von der unbeschwerten, sorglosen Stimme, die in der feuchtkühlen Schwärze des Verlieses deplatziert wirkte, sah sie auf.

Kleine, wissbegierige blaue Augen schauten sie mit unbefangenem Blick an. Ein von schütteren, weißen Haaren gekröntes Haupt, ein Gesicht mit einem energischen Mund und einer überlangen, gebogenen Hakennase und mehreren scharfen Falten, die von der Nase zum Mundwinkel verliefen - er erinnerte sie auf irritierende Weise an den Cäsar aus Asterix und Obelix. Im Gegensatz zu diesem hatte dieser Mann hier jedoch weiterhin einen akkurat geschnittenen schwarzen Kinnbart. Sie riss die Augen auf. So etwas hatte sie noch nie gesehen! Weiße Haare und ein rabenschwarzer Bart! Wie war es möglich, dass sein Haupthaar so aschblond war, dass man hätte denken können, es sei gefärbt, wohingegen sein Bart aber eine tiefe Schwärze aufwies? Seine Haare schienen ja beinahe zu leuchten! Es war absurd und unbegreiflich, doch hier handelte es sich augenscheinlich um Lucius Verus ...

„Kira, das ist Lucius Verus", sagte da schon Joella. „Lucius, das ist meine Freundin, von der ich dir erzählt habe."

„Reizend. Ganz reizend. Eine Lichthüterfrau. Es ist mir eine besondere Ehre", sagte Lucius lächelnd, während er eine beringte Hand galant auf seine Brust legte und sich leicht verbeugte. „Leider habe ich nicht das Vergnügen, dir angemessene Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Wir müssen mit dieser Zelle, der Pritsche und einem Krug Wasser vorliebnehmen."

Sie starrte auf den Ring an seinem Finger. Eine eingravierte goldene Flamme. Es war ein Lichthüterring. Im selben Moment fielen ihr die Initialien ein, die auf der Karte unter Simeons Schreibtisch in Pompeji gestanden hatten. 'Lieber Simeon. Meine Suche ist hier beendet, ich hoffe, du hast mehr Glück. L. V.'. Lucius Verus war der unbekannte Schreiber! Natürlich, deshalb war die Karte so alt. Er musste sie Simeon vor etwa hundert Jahren mit der Post von Trier nach Pompeji geschickt haben. Zusammen mit Simeon Romano hatte er nach Phönixen gesucht.

Im Schatten des PhönixWo Geschichten leben. Entdecke jetzt