Kapitel 7

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Die Nacht war eindeutig zu kurz gewesen.

Als sie mit Koffer und Rucksack bepackt am Bahnsteig des kleinen Bahnhofs stand, fühlte sie sich wie gerädert. Gleichzeitig wurde sie von ihrem schlechten Gewissen geplagt, weil sie gegangen war, ohne Simeon Bescheid gesagt zu haben. Wahrscheinlich ging er davon aus, dass sie erst in ein paar Tagen abfahren würde und nun brav an der Mauer, wo sie ihn gefunden hatte, auf den Phönix wartete. Verflucht! Fairer wäre es gewesen, es ihm zu sagen. Aber er hätte sie unzweifelhaft zurückgehalten. Zur Hölle, er schien nicht zu wissen, was für gefährliche Akteure in diesem Stück mitspielten! Und ihr Part war dabei ganz offensichtlich der undankbarste.

Die Morgensonne richtete ihre Strahlen auf den abblätternden Putz des in pompejianischem Rot gehaltenen Bahnhofsgebäudes mit seinen zwei Gleisen. Es würde ein heißer Tag werden.

Ihr Blick blieb ein Stück oberhalb davon an einem Schild hängen. Sofort stieg Unbehagen in ihr auf. 'POMPEI SCAVI Villa dei Misteri' stand da unübersehbar in schmalen Lettern - 'Pompeji, Villa der Geheimnisse'. Geheimnisse? War das ein schlechtes Omen? Vorerst hatte sie genug von Mysterien aller Art!

Es gab in der Ausgrabungsstätte zwar eine Villa die 'Mysterienvilla' genannt wurde, doch warum musste man auch gleich den Bahnhof so benennen? Dann beruhigte sie sich. Sie würde jetzt ja wohl nicht wie Harry Potter in einem nicht vorhandenen Gleis verschwinden oder in einem magischen Zug landen, der sie Gottweißwohin bringen würde. Es würde überhaupt nichts Ungewöhnliches passieren. Magische Welten gab es nicht, so einfach war das. Aber Phönixe gibt es, meldete sich da sofort ihre innere Stimme leise nörgelnd zu Wort. Hast du selbst gesehen.

Nervös suchte sie den Bahnhof nach einem goldenen Vogel ab. Doch nein, es war nirgends einer zu sehen, weder unter den gurrenden Tauben auf dem Bahnhofsdach noch am Himmel zwischen den weißen Schäfchenwolken. Seit der Phönix aus dem Ei geflogen war, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Vielleicht war es besser so.

Doch ihre Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Die Mysterienvilla kannte sie. Sie war schon einige Male dort gewesen und hatte die wunderbaren, in Ockertönen gehaltenen Fresken bewundert, die Szenen der griechischen Mythologie zeigten. Die Villa hieß so, weil die Fresken Riten zu den Mysterien des Dionysos-Kultes darstellten. Vor einer in pompejischem Rot gehaltenen Wand waren dort beinahe nur Frauen abgebildet, stehend, liegend, kniend, tanzend, sitzend, eine mit einer Schale Trauben in der Hand, eine andere weinend auf dem Schoß einer anderen, manche nackt, die meisten mit Tüchern verhüllt, in lässigen, manchmal erotischen Posen. Warum Frauen das Bild beherrschten, wusste niemand. Doch wer war Dionysos überhaupt? Soviel sie wusste, ein griechischer Gott, den die Pompejianer verehrt hatten. Aber war das alles?

Kurzerhand holte sie ihr Handy heraus, um mehr herauszufinden.

„Dionysos, Gott des Weines, des Wahnsinns und der Ekstase", las sie. Weiter hieß es: „Im ewigen Sterben und Werden der Natur wiederholt sich sein Schicksal; gefeiert wird dies im entfesselten Tanz und Rausch."

Wein, Wahnsinn und Ekstase, na prima, dachte sie. In Pompeji hat es anscheinend auch früher schon ein paar durchgeknallte Typen gegeben! Ewiges Sterben und Werden. Das passte gut ins Bild des Phönix. Am Ende war dieser Dionysos auch noch ein verrückter Lichthüter! Einer, der vielleicht nicht nur gerne gebechert, sondern auch goldene Feuervögel gezüchtet hatte?

Sie war schon ganz wirr im Kopf. Sie würde jetzt ja wohl nicht anfangen, Parallelen zu ziehen zwischen alten griechischen Göttern, einer Villa mit irreführendem Namen, Feuervögeln und diesen verrückten Lichthütern! Wenn ein alter pompejianischer Gott einen Hang zum Wahnsinn gehabt hatte, konnte ihr das heute ja wohl egal sein. Sie sollte sich lieber auf die Gegenwart konzentrieren.

Im Schatten des PhönixWhere stories live. Discover now