Kapitel 22

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„Ich finde den Weg auch alleine, Onkel Magnus, du musst mir nicht vier Mann Begleitung mitgeben", sagte Lian unwirsch.

Er war ohne ein Wort wieder aufgetaucht. Mit gesenktem Kopf und finster zusammengezogenen Brauen. Und ohne von Kira Notiz zu nehmen. Was ihr entgegenkam, schließlich hatte sie nicht vor, irgendwelche Worte mit ihm zu wechseln.

Das Gefühl der Erleichterung, das sich mit seinem Auftauchen unwillkürlich bei ihr eingestellt hatte, verdrängte sie energisch. Er war einer der Scuros, auch wenn ihr Unterbewusstsein das anscheinend noch nicht ganz kapiert hatte. Absolut hinterhältig war er, fies, unaufrichtig, heuchlerisch, arglistig, niederträchtig, unehrlich, ... die Liste hätte sie wahrscheinlich endlos so weiterführen können.

Am liebsten hätte sie ihm eine schallende Ohrfeige verpasst. Nur ging das schlecht mit zusammengebundenen Händen.

Magnus drückte seinem Neffen den verletzten Phönix in den Arm. „Es ist nur zu deinem Schutz, dass ich dir Begleitung mitgebe. Ich möchte sichergehen, dass die Passantin nicht auf dumme Ideen kommt."

„Was soll sie schon machen?", murmelte Lian. „Sie ist gefesselt." Er hielt den Feuervogel vorsichtig. Wenigstens mit dem Vogel schien er etwas Mitleid zu haben. Dass er ihrem Blick auswich, verstand sie. Sie durchbohrte ihn geradezu mit Blicken.

„Wehe, du tust ihm etwas an!", fuhr sie ihn an. Warum hatte sie nicht früher kapiert, dass Lian in dunkle Machenschaften verstrickt war?

„Für eine Passantin hat sie das Blitzeschleudern äußerst schnell gelernt. Sie muss einen sehr guten Lehrer gehabt haben", sagte Magnus da und riss sie aus ihren Gedanken. „Ich bin schon etwas verwundert, dass du anscheinend gar nichts davon mitgekriegt hast, Lian."

„Danke für dein Vertrauen, Onkel Magnus", entgegnete sein Neffe säuerlich. „Meines Wissens konnte sie es nicht. Und wenn, hätte ich es dir schon noch berichtet."

Es hörte sich so an, als gäbe es zwischen Onkel und Neffe des Öfteren Differenzen. Sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte. Dass Magnus in seinem Auftreten sehr dominant, ja geradezu herrisch war, hatte sie schnell gemerkt. Er schien Lian regelrecht am Gängelband zu führen. Aber auf Lians Seite stand sie trotzdem nicht. Nicht mehr.

Lian wandte sich an den Scuro neben ihr. „Halt den Vogel mal!", sagte er barsch und reichte ihm den Phönix, der klägliche, kehlige Laute ausstieß. Der Mann zog erstaunt eine Augenbraue hoch. „Was ...?", machte er, hielt den Vogel jedoch wie befohlen fest.

Mit ein paar Schritten war Lian bei Kira. Ohne sie anzuschauen, zog er ein Messer aus der Tasche.

Ihr Herz machte einen Satz. Was hatte er vor? Die Furcht kroch in ihr hoch wie eine giftige Schlange. Lian trat hinter sie und packte sie grob an den Handgelenken. Ihr Herz hämmerte wie verrückt. Würde er sie hinterrücks ...? Als sie spürte, wie er das Messer ansetzte und dann mit einer ruckartigen Bewegung ihre Fesseln zerschnitt, hätte sie beinahe laut keuchend ausgeatmet, doch sie schaffte es, es sich zu verkneifen. Die Genugtuung, dass sie hier vor Angst verging, wollte sie ihm nicht geben.

In einer Bewegung, die etwas äußerst Genervtes hatte, nahm Lian dem Scuro den Phönix wieder ab und drückte ihn ihr in die Arme. Verblüfft sah sie ihn an. „Was ...?", begann sie.

Da stellte er sich hinter sie. „So, gehen wir", sagte er dumpf. Sie wagte nicht, sich zu bewegen.

„Was machst du da, Lian?", fragte Magnus scharf. „Wer hat gesagt, dass die Göre den Phönix tragen soll? Bist du wahnsinnig?"

Lian gab Kira einen Stoß. Mit dem Phönix in den Armen stolperte sie vorwärts. Mistkerl!

„Ich tue das, was du mir aufgetragen hast, Onkel."

Im Schatten des PhönixWhere stories live. Discover now