Kapitel 6

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Am Abend zog der leckere Duft der Spaghetti alla Puttanesca durch den Saal. Emilio, der Küchenchef des Campo, hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Die scharf-würzige Tomatensauce, die er mit frischen Peperoncini vom Markt, Knoblauch, Oregano, Pfeffer, sowie eingelegten Sardellen zubereitet hatte, verströmte ein herrliches Aroma, und die kräftigen Farben der zu guter Letzt darauf gestreuten Petersilie und der schwarzen Oliven hatten auf dem Rot der Sauce etwas beinahe Pittoreskes.

Im Saal neben der Gemeinschaftsküche schwirrte es wie in einem Bienenkorb. Die Feier war in vollem Gange.

Während Scherze durch die Luft flogen und die Scheiben vor Gelächter, lautstarken Gesprächen und italienischen Schlagern aus den Lautsprecherboxen fast zu Bruch gingen, saß Kira am Tisch und wickelte matt ihre Spaghetti um die Gabel. Ihr Blick wanderte immer wieder zu der gelben, glitzernden Girlande hinauf, die jemand an der Decke zwischen den Holzbalken aufgehängt hatte. Ihre Farbe erinnerte sie unerbittlich an den Phönix. Alles fühlte sich seltsam surreal an. Sie fragte sich mittlerweile, ob es nicht besser gewesen wäre, das Ei nicht zu finden.

Auf einmal merkte sie, dass Lena sie seltsam ansah. „Bist du sicher, dass es dir gut geht, Kira? Du sagst gar nichts heute Abend. Und du bist ganz blass. Ist es immer noch wegen deinem Schwächeanfall gestern?"

Schnell suchte sie nach einer Ausrede. „Nein, nein. Ich ... muss nur die ganze Zeit an morgen denken. Die Abfahrt, das Ende des Camps, ... es fühlt sich komisch an." Sie rieb ihre Hände nervös aneinander. Sie prickelten schon wieder wie Ameisen. Ihr Kopf fühlte sich an wie mit Watte gefüllt. Sie sollte wirklich versuchen, zurück auf den Boden der Tatsachen zu kommen.

Sie war auch sonst kein Partylöwe und fühlte sich bei Feiern oft von der Musik, den hin und hergerufenen Gesprächsfetzen, dem Smalltalk und den ganzen Leuten etwas verschreckt. Doch heute war es nochmal anders. Sie fühlte sich, als würde sie alles durch das Glas eines Aquariums betrachten. Sie war da und doch wieder auch nicht. Gefangen in einem Gedankenkarussell aus goldenen Federn, schwarzen Kämpfern und zischenden Lichtblitzen war ihr Hirn gerade hochgradig überfordert. Und wenn es selbst den anderen auffiel, dass sie anders war als sonst, sollte sie vielleicht einfach sagen, dass sie Kopfweh hatte und ins Bett gehen.

„Bist du traurig, weil sich das Camp auflöst?" Lenas Stimme drang mitfühlend durch das Aquariumglas. „Hey, wir können unsere Adressen austauschen und in Kontakt bleiben! Außerdem gibt es nächstes Jahr sicher ein wieder ein Camp! Wir sehen uns wieder!"

„Ja, das stimmt schon", sagte Kira etwas lahm und hasste sich selbst dafür, Lena nicht einfach die Wahrheit zu erzählen.

„Jetzt entspann dich, die Feier ist doch schön!", sagte Lena, schaute sich um und lachte. Dann wies sie auf die mit Tomaten, Sardellen, schwarzen Oliven, Chili und Petersilie appetitlich angerichteten Teller und die Servietten daneben und grinste: „Ich sage auch keinem, dass du es warst, die die Servietten gefaltet hat wie sterbende Schwäne!"

Kira verzog das Gesicht. Lena hatte Recht. Als sie bei der Deko für die Feier geholfen und Servietten zu hübschen, weißen Tauben hätte falten sollen, war sie wohl nicht ganz bei der Sache gewesen. Aber sterbende Schwäne, als ob! Das verlangte eine Reaktion! Sie packte wahllos eine Serviette auf dem Tisch vor ihr, knüllte sie zusammen und warf sie quer über den Tisch Lena an den Kopf. „Da hast du deinen sterbenden Schwan! Immerhin kann er noch fliegen!", grinste sie.

"Aha, jetzt kommt wieder Leben in dich! Genau das hatte ich im Sinn. Und jetzt sieh dir mal Timeon an! Er ist sturzbetrunken. Es ist zum Schießen, wie er Margitta anschmachtet!" Kichernd wies Lena zu dem Jungen hinüber, der ein Stück weiter am Tisch saß.

Kira wandte den Kopf. Es war gut, sich ablenken zu lassen. In ihrem Zimmer würde sie sowieso nur grübeln.

Aber auch wenn sie sich Mühe gab, und die lärmende, typisch süditalienische Ausgelassenheit sie hätte anstecken müssen, blieb sie den Abend über in sich gekehrt und der Rest der Feier rauschte an ihr vorbei. Lena und Mariana tanzten beschwipst durch den Raum, Sandro gab ein „Laurentia, liebe Laurentia mein" zum Besten, das er von Christiana gelernt hatte und Marco nahm mehreren Mädchen das Versprechen ab, dass er sie einmal besuchen durfte („Promettemelo, dolcezza!").

Im Schatten des PhönixWhere stories live. Discover now