Kapitel 34

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Lian verschwand immer wieder alleine im Wald. Joella vermutete ja, dass er eine Art Reinigungs-Waldbaden betrieb, um sein Inneres zu sortieren. Kira glaubte eher, dass er aus Neugier die Gegend erkunden wollte und deshalb längere Touren machte. Oder aber er hockte irgendwo in einem Baum, um darüber zu meditieren, ob seine Tat ein Dolus eventualis oder aber unbewusste Fahrlässigkeit war und ob er dafür zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Dass er wirklich Jura studierte, wusste sie mittlerweile. Tatsächlich hatte sie kurzzeitig Angst davor gehabt, dass er, wie in einigen Büchern, die sie gelesen hatte, sich für jemanden anderen ausgegeben hatte und eigentlich sogar einen anderen Namen hatte. Immerhin hieß er wirklich Lian.

Oft begleitete ihn sein Vater. Albiel hatte die ganze Zeit über ein aufmerksames Auge auf seinen Sohn, ganz so wie eine Glucke ihr Küken keine Sekunde aus den Augen lässt. Lian machte nicht den Anschein, als würde es ihn stören, vielmehr suchte er die Nähe seines Vaters. Er lächelte mehr und wirkte weniger niedergedrückt und kraftlos. Das Band, das zwischen Vater und Sohn neu entstanden war, schien Kira wie die regenbogenfarbigen Tanzbänder, die sie im Gymnasikkurs an der Uni hin und wieder verwendeten: es war fein und leicht und hing in träumerisch taumelndem Schwebezustand in der Luft. Sie konnte es sich nicht wirklich vorstellen, wie es war, seinen eigenen Vater neu geschenkt zu bekommen, doch an Lians Gesicht konnte sie es immer wieder ablesen. Die dunklen Ringe unter seinen Augen verschwanden und seine Züge waren weniger scharf und hart.

Zwischen ihr und Lian war es lockerer geworden. Zwar war es nicht so wie vorher, aber immerhin hatte man nicht mehr das Gefühl, es würde gleich eine Scheibe zersplittern, nur weil sie sich zusammen im gleichen Raum befanden. Ihr Verhältnis war noch weit davon entfernt, ohne Spannungen zu sein, aber sie kam mittlerweile klar damit. Der neue Lian schien ihr echter, sanfter und ohne jegliche Arroganz. Trotzdem flackerte immer wieder ein Feuer in seinen Augen auf, das sie nicht deuten konnte.

Wenn sie zuweilen merkte, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte, gab sie sich innerlich einen Klaps auf die Finger und mahnte sich, vernünftig zu sein. So vergingen die Tage mit Training, Himbeerpflücken im Wald, langen Gesprächen mit Joella und Jonathans Kartentricks. Jonatahan erwies sich als sympathischer und unterhaltsamer Zeitgenosse. Wenn sie gemütlich zusammensaßen und er mit Eiern jonglierte, Kartentricks vorführte und urkomische Anekdoten aus dem Restaurant und seinem Leben erzählte, vergaßen sie sogar für kurze Zeit, dass sie jeden Moment von Krähen oder Scuros angegriffen werden konnten. Vor allem Joella schien sehr angetan von ihm. An diesen Abenden dachte sie oft, dass es eine Atempause war, die allen gut tat.
*

Als Lian ein paar Tage später schreiend aus dem Wald ins Haus gestürzt kam, war es vorbei mit der Ruhe. Kira war mit Mila und Joella gerade dabei, in der Küche das Abendessen vorzubereiten. Der Geruch von geschnittener Paprika, von Gurkenscheiben und frischen Zwiebeln lag in der Luft und die Sonne blitzte durch die Scheibe und tauchte den Raum in ein goldenes Licht.

Lian atmete so hektisch wie ein Rikschafahrer zu den Stoßzeiten und sein Gesicht war in etwa so rot wie die Paprika, die Mila für das Ratatouille in Stücke schnitt. Er stand da und starrte auf die Szene, als könne er nicht glauben, dass sie so etwas Banales taten wie ein Abendessen herrichten. Irritiert fixierte er die große Schüssel mit frischem Gemüse auf dem Holztisch. Die bäuerliche, einmütige Eintracht der drei Frauen schien ihn zu stören.

„Drei Krähen!", schrie er dann. „Im Wald! Etwa zwei Kilometer von hier! Sie haben mich gesehen!" Wild fuhr er sich durch die Haare, die vom Lauf durch den Wald wirr in alle Richtungen abstanden.

Simeon, der vom Korbsessel am Fenster aufgestanden war, legte das Buch aus der Hand, das er gerade gelesen hatte und räusperte sich. „Waren es Krähendrohnen?", fragte er langsam.

Im Schatten des PhönixKde žijí příběhy. Začni objevovat