Kapitel 26

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„Nenn es wie du willst. Das Imperium Nigrum ist das Reich, das den Scuros zusteht. Sie haben es vor Jahrhunderten in Besitz genommen. Die gesamte Anhängerschaft der Scuros, Kämpfer, Techniker, Wissenschaftler, Krähenentwickler ..., alle haben dort Zutritt. Es ist ihre Zufluchtsstätte."

„Aha. Okay, klingt tatsächlich nicht wirklich nach einem Ausweg. Kriege ich trotzdem Details dazu später?"

Ein blitzschneller Seitenblick von Lian. In seinen grünen Augen lag ein Zögern. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er ihr schon wieder etwas verschweigen wollte. Missmutig kniff sie die Lippen zusammen.

Da nickte er langsam. „Okay, du wirst Details kriegen. Aber jetzt geh! Mit ein bisschen Glück schaffst du es nach oben, bis zu der Tür, durch die wir gekommen sind."

„Der kürzeste Weg nach oben ist über die Wendeltreppe", sagte er. Dann zog er sie kurzerhand mit sich. „Da lang! Komm!"

Ganz unbestreitbar war es strohdumm, ihm nach seinem Verrat noch zu vertrauen und ihm blindlings hinterherzulaufen. Verzweifelt wandte sie den Blick nach einer Alternative. Vielleicht die schmale Tür dort drüben an der Wand? Oder die gewundene eiserne Treppe, die irgendwohin nach oben führte?

Eine Sekunde später rannte sie ihm hinterher, während sie sich selbst einen Narren schalt, weil es sicher wieder die falsche Entscheidung war. Sie rannte hinter Lian her zu einer schmalen Treppe, die sich zum nächsten Geschoss emporwand und dann auf einen Eisensteg führte. Hoffentlich wusste Lian, was er machte.

Als sie sich hektisch umschaute, konnte sie unten den wehenden Mantel von Korbinian sehen. Sein lang ausgestreckter Arm deutete auf sie. Er rief seinen Männern etwas zu, was im Lärm der Maschinen unterging. Mehrere Grüppchen Scuros formierten sich zum Losmarschieren.Nur weg von hier!

Während sie keuchend und hustend hinter Lian die schmale Wendeltreppe hochrannte, auf den vor ihnen liegenden Eisensteg, wo das Klackern ihrer Schuhsohlen sich mit den wilden Rufen der Scuros unter ihnen mischten und weiter die nächsten Stufen einer Treppe hinauf, musste sie irrigerweise an einen Spruch denken, den sie vor kurzem gelesen hatte: 'Gelassenheit ist eine anmutige Form des Selbstbewusstseins'. Oh mein Gott, schrie es in ihr schrill, ich fühle mich gerade weder anmutig noch selbstbewusst! Sie rannte hier gerade schweißüberströmt, mit hochrotem Gesicht und wahrscheinlich so anmutig wie ein radfahrender Hamster dem Kerl hinterher, der sie unlängst aufs Übelste hintergangen hatte! Wie absolut hirnrissig das war, würde sie demnächst wissen, wenn sie wieder am Gitter des Käfigs hing. Die Stoiker hätten jetzt sicher zu Gelassenheit, Besonnenheit und einer würdevollen inneren Haltung geraten. Zur Hölle, in so einer Situation hätte nicht einmal Marc Aurel selbst einen kühlen Kopf bewahren können!

Ihre Beinmuskeln brannten, ihr Puls raste und ihr Hirn schrie panisch nach einem Ausweg. Sie warf einen kurzen, panischen Blick hinter sich und sah unten, wo immer noch alles in Rauch und Qualm lag, einen Trupp Scuros. Vorneweg Korbinian, dessen Umhang wie ein schwarzer Sturm hinter ihm her fegte. Mit jedem Schritt wirbelte er graue Rauchschwaden auf, die sich um seine Beine schlängelten wie graue Schlangen. Er reckte die Faust.

„Lichthüterin, so leicht entkommst du mir nicht!", schrie er wie besessen. „Früher oder später werden wir dein Licht anzapfen. Wir kriegen dich! Dich und den Vogel!" Sein Anblick hatte auf sie einen ähnlich effizienten Effekt wie die rauschenden Flügel eines jagenden Bussards auf ein armseliges kleines Mäuschen und ließ sie gleich doppelt so schnell rennen. Vor ihr hörte sie Lian keuchen. Sie wusste, dass die Chancen dahinschwanden, hier mit Phoe heil rauszukommen.

„Ergib dich, Lichthüterin!", brüllte Korbinian beschwörend und übertönte mit seiner Stimme sogar den Lärm der Maschinen. Schaudernd schloss sie die Arme um Phoe und stürmte vorwärts. Niemals!, dachte sie. Lieber sterben!

Im Schatten des PhönixWhere stories live. Discover now