Kapitel 9

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„Ehrlich gesagt habe ich immer noch Mühe, zu glauben, was du mir da erzählst."

Joella saß im Schneidersitz auf Kiras Bett, während sie damit beschäftigt war, sich die Zehennägel in ihrer Lieblingsfarbe zu lackieren. Weinrot. Mit ihren langen blonden Haaren, die sie heute offen trug und die ihr in langen Wellen bis zur Taille reichten, hatte sie auf der meerblauen Bettdecke Ähnlichkeit mit einer Meerjungfrau. Bis auf die Flossen natürlich.

„Warum hast du kein Foto von dem Phönix gemacht?", fragte sie jetzt vorwurfsvoll und blickte mit Schmollmund von ihren Zehen auf.

„Es ging doch alles viel zu schnell", verteidigte sich Kira. „Aber es war wirklich magisch. Er war wunderschön. Und das sage ich, obwohl ich Vögel im Allgemeinen nicht sonderlich mag."

„Mann, Kira! Genau deshalb hat man das Handy immer griffbereit in der Hosentasche! Die echte Bewährungsprobe ist das Unvorhergesehene! Wie soll ich dir das alles denn jetzt glauben? Dass du ein Ei ausgegraben hast, ist ja noch plausibel, - abgesehen davon, dass es geglüht hat, als hätte man es über'm Feuer gegrillt. Aber dass dann noch ein Phönix geschlüpft und direkt weggeflogen ist ..., du musst zugeben, das ist ... sagen wir mal ... leicht fragwürdig." Sie wackelte vorsichtig mit den Zehen, damit die Farbe schneller trocknete. Ein Unterfangen, das sich mit der zwischen die Zehen gesteckten Watte äußerst schwierig gestaltete und zudem noch urkomisch anzusehen war.

Mit Schwung drehte sich Kira auf dem Drehstuhl am Schreibtisch zu ihr um. „Du bist meine Freundin! Du musst mir einfach glauben!", rief sie. „Ich habe keine Beweise, sorry, aber ich weiß, was ich gesehen habe!" Sie überlegte und fügte dann brummelnd hinzu: „Zumindest bin ich fast sicher."

„Hm ...", brummte Joella unbeeindruckt. „Nehmen wir mal an, dass es kein Hitzschlag war... Trotzdem ein klitzekleiner Einwand meinerseits: sind Vögel nicht erst mal nackt, wenn sie geboren werden? Hast du ihn nackt gesehen?"

„Ob ich ihn nackt gesehen habe?" Kira starrte sie ungläubig an. „Natürlich nicht! Hast du allen Ernstes schon einmal von einem nackten Phönix gehört? In Andersens Märchen erklärt die kleine Meerjungfrau ja auch nicht, wie sie zu ihrem Fischschwanz kommt! Es geht hier um den Phönix! Den echten!"

„Ich meine ja nur ...", nörgelte Joella und pustete liebevoll über ihre Zehen. „Deine Story ist schon eigenartig ..."

„Mensch, ich habe sie ja nicht erfunden! Und ich bin Archäologin, kein Vogelexperte. Was weiß ich, vielleicht sind Phönixe einfach eine Kategorie, die man nicht exemplarisch für eine andere nehmen kann?"

Joella sah von ihren glänzenden Zehennägeln auf, die gerade eine Schicht Glitter aufgepinselt bekommen hatten und stellte das Fläschchen mit dem funkelnden Nagellack dann ordentlich neben das mit dem weinroten. Mit sichtlichem Vergnügen begutachtete sie ihre Zehen. „Nicht übel, was?", meinte sie stolz.

Kira nickte abwesend. Sie wusste, dass Joella keine weinroten Zehennägel brauchte, um alle männlichen Wesen im Umkreis von hundert Metern auf sich aufmerksam zu machen. Ein Schwung ihrer gewellten, lang fallenden Haare und alle Männerherzen schwangen höher. Es war wie eine mathematische Gleichung. Je größer der Schwung ihrer Haare, desto stärker fielen die erzeugten Schwingungen bei den Männern aus. Dazu noch ihr charmantes Lächeln und der wippende Gang mit einer kecken Bewegung aus der Hüfte heraus, und die Erstsemester kippten beinahe in Ohnmacht.

Innerhalb von drei Monaten hatte Joella drei Mal den Freund gewechselt. Jedes Mal hatte sie vom Neuen geschwärmt und jedes Mal war sie davon überzeugt, dass es nun ihr Herzblatt war. Sie konnte sich schnell begeistern, sowohl für Männer als auch für Dinge und war auch nie lange traurig nach einer beendeten Episode.

Im Schatten des PhönixWhere stories live. Discover now