Prolog: Neue Karten, altes Spiel

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Die uralte mechanische Tischuhr von Tante Peggy schlug Mitternacht, als Hanni durch die Tür hinaus auf den winzigen Balkon trat. Wieder war ein Jahr ohne Happy End zu Ende gegangen, wieder stand ein Neues vor der Tür. Versprach einen blütenweißen Kalender, ein neu gemischtes Deck Karten. Neue, alte Träume, unentdecktes Glück. Doch Hanni hatte bereits zu viele Jahreswechsel erlebt, als dass sie sich von dieser Illusion noch täuschen lassen konnte. Nein, sie wusste, dass das Jahr 2048 keinen Deut besser werden würde als das Jahr 2047. Oder 2046. Oder 2045.

Ein kalter Wind blies um den Wohnblock und machte es ihr schwer, die Zigarette anzuzünden. Sie versuchte es einige Male, verbrannte sich den Daumen am heiß gewordenen Rädchen und fluchte lautstark. Als es ihr schließlich gelang, die Zigarette hinter vorgehaltener Hand zu entzünden, zog sie gierig den blauen Dunst ein. Sie fröstelte etwas, wie sie so dastand und in den wolkenbehangenen Nachthimmel starrte, wartend, auf das große Feuerwerk.

Dann hörte sie es, das ferne Surren der Drohnen. Unsichtbar flogen sie wie ein Schwarm mechanischer Heuschrecken durch die Luft, bildeten ein dichtes Netz über dem Himmel Berlins. Auf ein unsichtbares Signal hin begannen sie mit ihrer Choreografie. Eine Show, die nur im Entferntesten an die Wunder der Feuerwerke ihrer Kindheit erinnerte. Grelle Lichter blinkten in unregelmäßigen Abständen, tauschten Positionen, wechselten ihre Farben. Schwarz rot golden flatterte der Bundesadler über die Dächer der Stadt, spannte seine Flügel aus über einer Welt, die im Schatten lag. Zog seine Runden, sichtbar für all die trüben, müden Augen, die ihre Blicke noch in den Himmel erhoben.

Als Hanni ihre Zigarette fertiggeraucht hatte, explodierte der Adler in abertausend funkelnde Partikel, die am Nachthimmel schimmerten und schließlich das Jahr 2048 formten. Dann erloschen die Lichter und die Drohnen surrten davon. Zurück, zu ihrem Adlerhorst.

Hannis nackte Füße waren zu Eiszapfen erstarrt, auf dem kalten Beton ihres Balkons. Dennoch ging sie nicht zurück in ihre winzige Wohnung. Sie ließ den Blick über die Stadt schweifen. Denn das einzig gute an dieser Wohnung war der Ausblick. Sie konnte die fernen Hochhäuser sehen, die wenigen Gebäude, die zu dieser Uhrzeit noch beleuchtet waren. Sah den Reichstag, mit seiner hell erleuchteten Kuppel aus Glas. Genauso zerbrechlich wie der Frieden in diesem Land. Sie seufzte schwer, trat von einem Fuß auf den anderen und zündete sich schließlich eine weitere Zigarette an.

Nein, 2047 war wahrlich kein gutes Jahr gewesen. Nicht für sie und nicht für dieses Land. Es war ein miserables Jahr in einer ganzen Reihe von noch miserableren Jahren gewesen. Klimakrise, verbunden mit Dürren und unzähligen, wütenden Unwettern. Herbstlaub im Hochsommer, Kirschblüten im Winter. Die Natur war verwirrt, genau wie die Bewohner in diesem Land. Viele notwendige Ressourcen waren knapp geworden. Die Wirtschaft lag am Boden, zu viele Wirtschaftskriege wurden geführt, mit zu ungewissen Ausgängen. Aus Partnerschaften waren Feindschaften geworden, aus der EU ein Flickenteppich, der nur gerade so noch zusammenhielt. Ein heftiger Windstoß und auch sie würde Geschichte sein. So wie der Euro, oder jegliches Papiergeld. Neue Regime hatten die Macht an sich gerissen, Geld hatte noch mehr Ungleichgewicht geschaffen als in den Jahrzehnten zuvor. Hatte die Menschen wütend gemacht, die Armen aber erst recht die Reichen. Die Welt da draußen glich einem Trümmerhaufen. Einem Meer aus Zerfall und Bauruinen, die das Gesicht von Berlin vernarbten.

An den meisten Tagen brachte es Hanni nicht einmal übers Herz, die Nachrichten an ihrer Medienwand gegenüber von ihrem Bett zu schauen. Vermied jeden Blick auf das Weltgeschehen oder durch die dunstige Glaskugel des Reichstags. Dann malte sie. Oder sie hangelte sie sich in ihrem Jogginganzug von Game-Show zu Reality-TV-Show und weiter zum Digital-Yoga. Dorthin, wo sich all die rastlosen und ruhelosen Seelen akkumulierten, die ziellos durch die Welt hinter der Medienwand trieben, hineingeboren in eine Generation aus Trost- und Antriebslosen.

Seit Jahren schon kämpfte Hanni gegen ihre innere Trostlosigkeit, doch im letzten Sommer war alles noch viel schlimmer gekommen: Denn Tante Peggy war gestorben. Der einzige Mensch auf dieser Welt, der Hanni noch wirklich etwas bedeutet hatte. Der einzige Mensch, der sie in den letzten 20 Jahren ihres Lebens geliebt hatte und dem sie blind vertrauen konnte. Nach dem viel zu frühen Tod ihrer Mutter hatte Peggy sie mit 9 Jahren aufgenommen, als sich niemand sonst für sie interessiert hatte. Nicht einmal verwandt war sie mit ihr, bloß die beste Freundin ihrer Mutter. Aber sie hatte sich um sie gekümmert, so, als sei sie ihr eigenes Kind gewesen. Hatte Hanni die Liebe gegeben, die so selten geworden war in dieser Welt.

Doch nun war Peggy fort. Für immer. Ihr Tod hatte sie über die Klippe der Trostlosigkeit gestoßen, hinein in ein tiefes Tal. So tief, dass sie ihren Job als Grafikdesignerin verloren hatte, mitsamt ihrer gemeinsamen Mietswohnung. Nun saß sie wie abertausend andere arme Seelen fest, auf 19 Quadratmetern in einem modernen Berliner Mikroapartment, wie der Wohnungssuch-Algorithmus sie angepriesen hatte. Ein Bett, das gleichzeitig Sofa und Schreibtisch war, eine Küche, die gleichzeitig Bad war. Eine Kommode, die über und über mit Umzugskartons beladen war, die Tante Peggys alte Sachen beinhalteten. Und eben eine Medienwand, die sie mitten in der Gesellschaft hielt, auch wenn sie so weit fort schien.

Während sich die Glut der zweiten Zigarette beinahe ihrem Finger angenähert hatte, wickelte sie sich ihren Cardigan etwas fester um die schmale Taille. Was solls, dachte sie, fuhr sich mit der linken Hand durch das haselnussbraune Haar. Immerhin bin ich noch am Leben. Und das Einzige, das sie sich für 2048 vornahm, war, am Leben zu bleiben. Dann schnippte sie die Zigarette über das Geländer des Balkons und ging zurück in ihr Mikroapartment. Sie zog den Cardigan aus, putzte sich über der Spüle die Zähne und ließ sich rücklinks ins Bett fallen.

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