Kapitel 2: Passen

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Zwei Nächte lang hatte sie kaum geschlafen. Und wenn sie doch in die triste, graue Welt ihrer Träume hinübergeglitten war, dann nur um schweißgebadet aufzuwachen. Mal war sie gefangen in einer Episode von Sissi, eingeschnürt in ein enges Korsett, das ihr den Atem raubte. Mal saß sie an der Weihnachtstafel ihres Onkels Guntberth, nur dass sie die ganze Gesellschaft aus den Augen ihrer eigenen Mutter beobachtete. Mal saß sie im Auto mit dem Kanzler, der sie gefesselt hatte und mit Gewalt versuchte, ein Diadem auf ihrem Kopf zu befestigen.

Die halben Nächte verbrachte sie in nasskalter Einsamkeit auf dem viel zu kleinen Balkon ihrer Einzimmerwohnung, rauchte eine Zigarette nach dem anderen. Tomek, einer ihrer wenigen verbliebenen Freunde, hatte ihr etwas Guthaben aufgeladen, sodass sie sich den Luxus leisten konnte. Aber es war gefühlt das Einzige, das sie bei Verstand hielt.

Am Morgen des dritten Tages nahm sie eine kurze, kalte Dusche, trank etwas Instant-Kaffee, rauchte zwei Zigaretten und kleidet sich in den einzigen halbwegs förmlichen Anzug, den sie besaß. Er war grau und unterstrich ihre fahle Haut und die Augenringe. Und er zeugte davon, dass sie in den letzten Monaten das ein oder andere Kilo verloren hatte. Sie kämmte sich ihre haselnussbraunen Haare zu einem festen Zopf, griff ihren schlichten, schwarzen Rucksack und verließ ihre Einzimmerwohnung auf den letzten Drücker. Als sie die Haustür öffnete, parkte auf dem Bordstein bereits eine schwarze Limousine. Der Fahrer des Kanzlers stand daneben. Als er sie auf ihn zukommen sah, nickte er knapp und öffnete die Tür. Hanni seufzte. Wie gerne hätte sie nun zu einer Zigarette gegriffen, um ihre Nerven etwas zu beruhigen. Aber es half alles nichts. Mit zittrigen Knien stieg sie in das Auto und nahm auf der Rückbank Platz. Der Fahrer lief um den Wagen und setzte sich hinters Steuer. Wortlos setzt er den Wagen in Bewegung und brauste davon.

Während Berlin hinter den Fenstern vorbeiflog, drehten sich Hannis Gedanken wie in Zeitlupe. Sie kreisten um eine Entscheidung, die sie eigentlich schon getroffen hatte. Wie würde Sie dem Kanzler klarmachen, dass sie die Rolle nicht antreten würde? Wie würde sie verständlicher erklären, dass egal, wie schlecht die Zeiten waren, sie nicht die richtige Frau für diesen Job war? Und würde er ihr Nein tatsächlich akzeptieren? Ihre Hände schwitzten, sie strich sie am günstigen, grauen Stoff der Hose ab, der sich augenblicklich verräterisch verfärbte.

Irgendwann wurde der Wagen langsamer und fuhr durch eine Ansammlung von Gattern und vorbei an Sicherheitsrobotern und Wachleuten. Als er endgültig zum Stehen kam, befanden sie sich unmittelbar vor Schloss Bellevue. Während der Fahrer wie selbstverständlich ihre Tür öffnete, sah sie, dass der Kanzler bereits auf dem Kiesweg wartete.

Aufrecht und starr stand er da, in der alten, herrschaftlich wirkenden Kulisse. Unerschütterlich. Unumwerflich. Unüberwindbar. Sie fragte sich, wie es jemals möglich sein könnte, ihn zu stürzen. So fest stand er mit beiden Beinen in der bitteren Realität dieses Landes.

Er unterbrach ihren Gedankenfluss, indem er auf sie zukam und ihr seine Hand entgegenstreckte. Sie fuhr ein letztes Mal über den grauen Stoff ihrer Hose, stieg unbeholfen aus dem Auto und streckte ihm die Hand entgegen.

„Fräulein Hanni!", sagte er zu ihr, lächelte sein gütiges Lachen und zwinkerte ihr zu. „Schön, dass Sie zu uns gefunden haben." Sie nickte und lief neben ihm her, als er ihr den Weg deutete. Er führte sie durch eine kleine Tür in einen unscheinbaren Empfangsraum, in dem sich außer ihnen niemand befand. Er öffnete mehrere Türen, bog in lange, leere Gänge ein und kam schließlich in einem Meetingraum an, der vom grauen, dunstigen Licht des Januarvormittags etwa erhellt wurde.

„Setzten Sie sich bitte, Fräulein Hanni. Wir warten noch auf zwei weitere, hilfreiche Gäste." Er lächelte sie hoffnungsvoll an. Ja, es würde verdammt schwer werden, ihm ihr Nein mitzuteilen.

Operation Pik Dame | ✔️Where stories live. Discover now