Kapitel 20: Backdoor

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Hanni war den ganzen Tag aufgeregt. Wie lange war sie nicht mehr unbewacht in der Öffentlichkeit gewesen? Sie dachte nach. Und rechnete Monate zurück. Es waren vier lange Monate. Am 06.01. hatte sie das letzte Mal allein ihre Wohnung verlassen und war in den Wagen des Kanzlers gestiegen, der sie geradewegs nach Bellevue gebracht hatte. Seitdem hatte sie keine einsamen Spaziergänge mehr unternommen. Keine schnellen Ausflüge zur Lebensmittelausgabe. Keine sinnlosen Schlendereien durch die immergraue Stadt. Doch das würde sich heute Abend ändern, und allein bei dem Gedanken daran stellten sich die Haare an ihren Armen auf. Sie würde sich auf die Suche nach Tomek machen, aber nicht nur das. Sie würde zum ersten Mal in vier Monaten die Freiheit wieder schmecken. Nicht nach Protokoll leben, nicht nach einem festgefügten Terminkalender. Sie würde allen davonlaufen und mit Konstatin durch die Nacht fahren. Verkleidet als ganz normale Frau, sodass niemand die Prinzessin oder gar zukünftige Kaiserin in ihr sah.

Hanni war den ganzen Tag über so abwesend, dass Albert sich in ihrer Besprechung mehrfach darauf hinweisen musste, sich zu konzentrieren. Seine Laune war kaum besser geworden und sein Tadel ärgerte Hanni. Hatte sie sich doch eigentlich vorgenommen, ihm zu beweisen, dass sie die richtige Frau für diesen Job war. Sie war froh, als Albert seine Sachen packte und sie für den Rest des Nachmittags allein ließ. Sie hatte noch eine Hologram-Konferenz mit dem Kanzler und einigen Abgeordneten, die sie über den Zwischenstand des modifizierten Grundgesetzes informierte, dann aß sie etwas zu Abend und zog sich zurück.

„Schließen Sie die Sicherheitsschranken für den Abend und machen Sie Feierabend, ich möchte allein sein", forderte sie die Sicherheitsleute auf, die ihr zunickten, die Schleuse programmierten und schließlich von dannen zogen. Gut, dachte Hanni. Alles läuft nach Plan.

Nach einem kurzen Telefonat mit dem Kanzler gegen Acht, konnte es Hanni vor Aufregung kaum noch aushalten. Es würden noch beinahe drei Stunden vergehen, bis sie Konstantin treffen würde, doch sie ging bereits jetzt ins Badezimmer und begann die Gelpads aufzulegen. Mit einer durchsichtigen Flüssigkeit klebte sie die hautfarbenen Silikonelemente an ihr Kinn, auf ihre Nase und an ihre Wangen. Dann legte sie eine Schicht Makeup darüber, die die Gelpads beinahe unsichtbar machten. Zum Schluss kostete es sie noch etwas Mühe, die farbigen Kontaktlinsen einzusetzen, die ihre Augen veränderten. Als sie fertig war, blickte sie ein anderer Mensch aus dem Spiegel an. Es war erstaunlich, was sie mit einigen wenigen Handgriffen an sich verändern konnte. Kein Wunder, dass die Gelpads der neuste Schrei waren.

Als sie fertig war, zog Hanni noch eine schwarze Jeans und ein einfaches, schwarzes Hoodie aus ihrer Vergangenheit an. Sie setzte sich auf das Sofa und ließ die Zeit dahinstreichen, während sie beinahe regungslos und gedankenverloren auf die Videowand starrte.

Dann war es so weit: Es war kurz vor 11. Mit klopfendem Herzen klebte Hanni den Chip von Konstantin an die Innenseite ihres Unterarms, schob einen kleinen, runden Geräusch-Canceller in die Bauchtasche ihres Hoodies und öffnete die Tür zum Flur. Es war dunkel und niemand war zu sehen. Gut.

Hanni lief auf leisen Sohlen zur Schleuse und legte den Chip auf. Und wirklich, die Tür schwang geräuschlos auf und ließ sie passieren. Sie tapste die Treppenstufen hinunter, immer mit gesenktem Kopf, und lief zum Seitenausgang. Auch hier zog sie den Chip über den Scanner und hob im Vorbeigehen die Hand zum Sicherheitsmann, der mit abwesendem Blick in einem Glaskasten saß und die Doppelkontrolle übernommen hatte. Auch er ließ sich von ihrem Outfit blenden und reagierte kaum. So schlüpfte Hanni durch die Tür und beschleunigte ihre Schritte.

Sie hatte die Gegend um Bellevue auf einer Karte genau studiert, wusste, wie die Straßen in ihrer Umgebung hießen, hatte sich den Weg eingeprägt. Sie lief den Spreeweg entlang, ließ die Soßnitz-Straße links liegen und bog schließlich in die Wotan-Wimmer-Gasse ein. Zwischen riesigen, verlassenen Betonklötzen begann sie zu rennen, lief schneller und schneller. Das Adrenalin der Vorfreude mischte sich mit dem Adrenalin der Panik. Jederzeit konnte jemand ungesehen aus einem der düsteren Hauseingänge hinaustreten und sie aufhalten. Sie hatte sogar zwei Lagen der hauchdünnen Sicherheitsmembran übereinander gezogen, um sicher zu gehen.

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