Operation Pik Dame | ✔️

Kapitel 28: Operation Pik Dame

Die ersten Zeilen waren holprig. Sie verstand zunächst nicht, was es mit dem Papier auf sich hatte. Doch je mehr Worte in der ungewohnten, kleinen Handschrift sie las, desto klarer wurde das Bild. Und desto kälter wurde das Blut in ihren Adern. So kalt, dass sie sich kaum noch bewegen konnte und ein eisiger Schauer über ihren Rücken lief. Jeder Zentimeter ihrer Haut war schließlich mit einer Gänsehaut überzogen.

Was in diesem Dokument stand, war die Antwort auf beinahe alle ihrer Fragen. Offenbar war es ein geheimes Dossier, das Albert irgendwie in die Hände bekommen hatte. Und er hatte es heimlich für sie kopiert.

Das Dossier begann damit, Hannis altes Leben in schockierender Ehrlichkeit zu beschreiben. Ohne Schnörkel, ohne Rüschen, in all seiner Tristes und Verzweiflung, in all seinem Stillstand, in all seiner Jämmerlichkeit. Es erzählte von einer deprimierten, zurückgezogenen Frau, die in ärmlichen Verhältnissen vor sich hinvegetierte, nicht genug Energie, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Es kommentierte ihre Jogginghosen, ihre ungestylten Haare, verlorene Arbeitsplätze, ihr Kunsttalent, das nie wirklich für irgendetwas ausreichend erschien, ihren kleinen Freundeskreis, ihr fehlendes Interesse an sozialen Aktivitäten. Es zählte all ihre Fehler auf, ihre Fehlversuche, ihre Fehltritte. Zeigte auf, was sie nicht konnte, wofür sie vermeintlich nicht schlau genug war, wozu sie nicht genug Durchhaltevermögen hatte. Auch beschrieb es den Tod ihrer Mutter, deren halbes Leben von schweren Depressionen und Verfolgungswahn gezeichnet war und deren Ende im Wahnsinn gemündet hatte. Wer auch immer diesen Bericht verfasst hatte, rechnete auch Hanni eine Chance ein, diesen Weg zu begehen, wenn sie an ihrem Leben nichts ändern würde.

Tränen des Entsetzens bahnten sich den Weg in Hannis Augen, als sie da las. Als sie realisierte, mit wie wenig Respekte über sie und über ihr Leben berichtet und geurteilt wurde. Wie abschätzend man über sie dachte. Doch je weiter Hanni las, je schlimmer wurde es. Denn die nächste Passage des Dossiers erklärte, warum ausgerechnet Hanni die richtige Besetzung für den Posten der Deutschen Kaiserin war.

In nüchternen Worten erläuterte das Dossier, dass Hanni zwar lernfähig war, aber nicht schlau genug, um den großen Plan zu durchschauen. Man hielt sie für nicht ehrgeizig genug, um eigene Ziele und Visionen umzusetzen. Nicht interessiert genug, um eine Gefahr werden zu können. Gerade hübsch genug, um von Deutschland noch ernst genommen zu werden. Gerade schlau genug, um die Rolle zu spielen. Verzweifelt genug, um die Rolle anzunehmen, mit Geld, Luxus und dem Versprechen einer besseren Welt einfach zu blenden.

Die Verfasser des Dossiers waren fest davon überzeugt, dass sie die perfekte Fassade für ihr perfides Spiel war: Royalty-Barbie, mit weißen Zähnen und glänzendem Haar, gestriegelt und gebügelt. Bereit für den Auftritt.

Sie hob ihre eiskalt gewordenen Finger vom Papier und fuhr sich durch die Haare und über das Gesicht.

Sie war eine Marionette im aufwendig inszenierten Puppenspiel!

Nicht mehr als ein Alibi vor Deutschland und vor der Welt!

Sie war die Puppe, die mit ihrem aufpolierten Gesicht und ihrem einstudierten Lächeln die Monarchie zurückbrachte und damit den Puppenspielern im Hintergrund ihre eigene Zukunft sicherte. Ohne, dass diese sich selbst die Hände schmutzig machten. Ohne, dass auf ihnen ein Schatten zurückblieb, wenn das bittere Experiment scheitern sollte.

Hanni blickte wieder auf das Papier, während sich ihr Magen zusammenzog und ihr Darm zu rumorten begann.

„Auch die Isoliertheit, in der Frau Romanow lebt, wirkt sich positiv auf die Operation aus", las sie weiter. „Durch das zurückgezogene Leben ihrer Mutter und Tante und den kleinen, selbst gewählten Freundeskreis ist sie soziale Abstinenz gewohnt. Bereits in der Ausbildungszeit wird empfohlen, dies fortzusetzen. Dies begünstigt einerseits den Aufbau einer möglichen Beziehung zu Prinz Adalbert, andererseits legt es den Grundstein für das Vorgehen, falls Frau Romanow sich als nicht operationskompatibel erweisen sollte.