Kapitel 4: Kreuz König

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Es war frisch in ihrem Zimmer, als Hanni am nächsten Tag aufwachte. Sie lag rücklings in einem schmalen Doppelbett, ein Federkissen im Nacken und bedeckt von einer schweren, dicken Decke. Als sie diese zurückschlug und langsam aus dem Bett stieg, fröstelte sie. Sie trug einen blauen Seidenschlafanzug, den man für sie bereitgelegt hatte. Am alten Bauernschrank in der Ecke fand sie einen gefütterten Morgenmantel, den sie überzog. Beim Weg zurück zum Bett lief sie am Fenster vorbei und blieb verblüfft stehen.

Ihr gesamtes Leben hatte sie in Berlin verbracht, da fing all das Grün vor ihrem Fenster ihren Blick ein und hielt ihn gefangen. Sie trat näher an die Glasscheibe und blickte hinaus, doch egal wohin sie schaute, sie sah nur zartes, blasses Grün. Grün in Form von Wäldern, Grün in Form von Gras oder Grün in Form von Bäumen. Grün überall, nur durchzog von einem kleinen Fluss, der sich durch die Landschaft schlängelte. Kein einziges Haus war zu sehen, keine Menschenseele.

„Ich bin am Arsch der Welt gelandet", sagte sie zu sich selbst und wickelte den Morgenmantel etwas fester um ihre Taille. Dann lächelte sie. In den letzten Monaten hatte sie sich so oder so nur in ihrer Wohnung verkrochen, da machte es keinen Unterschied an einem Ort zu sein, wo es beinahe keine Menschen gab. Vielleicht war es genau das, was sie eigentlich brauchte.

Sie öffnete das Fenster weit und blickte noch eine Weile hinaus. Die kalte Luft erfrischte sie und kribbelte auf ihrer Haut. Sie lauschte in die ungewohnte Stille hinein, ein paar Vögel zwitscherten und nur ganz entfernt hörte sie das vage Surren der Sicherheitsdrohnen, auf die sie Franz Friedrich am letzten Abend noch aufmerksam gemacht hatte.

„Schlafen Sie gut und schlafen Sie ruhig", hatte er zu ihr gesagt. „Es gibt kaum einen Ort auf der Welt, an dem Sie so sicher schlafen können wie hier."

Nachdem sie das Fenster wieder geschlossen hatte, zog sie sich an und machte sich bereit für den Tag. Der uralte, massive Bauernschrank war gefüllt mit Kleidern, die nicht ihre waren. Zwar hatte Franz Friedrich gesagt, dass ihr Gepäck angekommen sei, doch vermutlich nicht auf ihrem Zimmer. Also entschied sie sich für einen grauen Rollkragenpullover und eine schwarze Bundfaltenhose, die sie so niemals gekauft hätte. Aber es fühlte sich bequem an und das war alles, was hier zählte. Schließlich musste sie nicht wirklich unter Menschen.

Schnell putzte sie noch die Zähne, kämmte sich das Haar und verließ ihr Zimmer mitsamt ihrem Smartpad in Richtung Essenssaal. Hier saß Franz Friedrich bereits wie am Vorabend angekündigt beim Frühstück und lächelte ihr zu. Sie setzte sich zu ihm, aß etwas Müsli und Micro Greens und trank einen Kaffee.

„Wo kann ich hier rauchen?", fragte sie ihn schließlich und legte ein Päckchen Zigaretten auf den Tisch. Er legte kurz die Stirn in Falten, dann deutete er nach draußen.

„Ich fürchte, in den Gebäuden ist es untersagt. Sie müssen nach draußen ausweichen."

Als Hanni rauchend im Innenhof der Burg stand, legte sie den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Der Himmel war eingerahmt von den unzähligen, mittelalterlichen Türmen, die sich nach oben ins Blaue streckten. Manche von ihnen aus hellem Stein, andere aus weiß-rotem Fachwerk. Spitze, dunkle Dächer zierten alle Türme und Gebäude. Es sah aus wie in einem Märchen: prachtvoll, rustikal und völlig weltfremd. Keine Glasfassaden, keine Stahlträger, keine Recycling-Steine. Nein, echte, uralte Steine, die Stück für Stück aufeinandergesetzt waren, zusammengehalten mit uraltem Mörtel. Es war ein wahrhaftiges Dornröschenschloss.

Hanni drehte sich im Kreis und ließ die Gebäude auf sich wirken. Dann ging sie die Treppe zum unteren Teil des Innenhofs hinab, lief durch die Unterführung hindurch, immer auf dem Weg, der sie zum Schlosstor führte. Und auch von außen verlor die Burg nichts von ihrer Imposanz. Wie ein Ring aus Steinen zogen sich die Gebäude um den Innenhof, ganz so, als wollten sie ihn und alle Bewohner der Burg schützen. Rechts und links befanden sich noch einige, leere Gebäude, die während der Öffnungszeiten der Burg im Sommer und Herbst als Restaurants und Cafés dienten.

Operation Pik Dame | ✔️Where stories live. Discover now