Kapitel 18: Quartett

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Hannis Gedanken rasten, versuchten zu erfassen, was auf der Karte stand. Die meisten dieser Namen hatte sie noch nie gehört. Ernst von Hohenzollern, Ramona von Hohenzollern, Kevin und Thomas Grünensee? Was war das für eine Liste? Mit feuchten Händen schaltete sie ihr Smartpad ein und öffnete in der Mediathek den Stammbaum der Familie Hohenzollern, den sie so oft mit Franz Friedrich und Albert durchgegangen war. An allen wichtigen Persönlichkeiten hatten sie angehalten, aber diese Namen waren ihr nicht geläufig. Sie suchte die Thronfolgelinie ab, und wirklich: dort fand sie die Namen. Einen nach dem anderen: Ernst von Hohenzollern, ursprünglicher Erbe des deutschen Kaiserthrons. Direkt unter ihm, Ramona von Hohenzollern, sein einziges Kind. Unverheiratet. Kinderlos. Tot.

Danach reihte sich Markus Grünensee in die Thronfolge ein, auch wenn sich der Stammbaum mit einer gestrichelten Linie nicht sich zu sein schien, ob diese Linie legitim war. Bereits seit 15 Jahren war er tot. Unter ihm seine Söhne, Kevin und Thomas: Unverheiratet. Kinderlos. Tot. Hanni scrollte weiter und weiter im Stammbaum. Und tatsächlich. Der nächste auslaufende Ast, den sie fand, war ihr durchaus bekannt: Regine Felizitas Johanna Peggy Prinzessin von Hohenzollern. Sie selbst.

Ihr Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen, sie hielt die Luft an. Innerhalb eines Jahres waren alle Thronfolger gestorben. Bis zu dem Tag, als der Kanzler sie am 03.01.2048 angesprochen hat und sie Hals über Kopf auf eine einsame, verlassene Burg am Ende der Welt gebracht hatte? Das konnte kein Zufall sein. Nein, Hanni glaubte nicht an Zufälle. Schon gar nicht an solche.

Irgendjemand brachte systematisch Thronfolger um! So lange, bis sie Hals über Kopf auf Burg Eltz versteckt worden war? Und nun hinter den dicken Wänden von Schloss Bellevue festsaß? Wer wusste davon? Und vor allem: Warum zur Hölle wusste sie nichts davon? Warum hatte man ihr am allersten Tag nicht gesagt, in welcher Gefahr sie schwebte? 

Sie legte die Karte auf den Schreibtisch und zwang sich wieder in Ruhe zu atmen. Panik half an dieser Stelle nicht weiter, würde ihre Gedanken nur noch mehr blockieren. Sie musste versuchen, rational zu denken. Sich etwas abzuregen. Das von ihrer Mutter geerbte Temperament zu zügeln. Also nahm sie ihren Smartcontroller zur Hand und sagte laut und deutlich „Hauszentrale". Augenblicklich nahm jemand ihren Anruf entgegen.

„Ich benötige zwei Stunden Ruhe. Bitte passen Sie meinen Kalender an", sagte Hanni, versuchte jegliches Zittern aus ihrer Stimme fernzuhalten.

„Ich setzte es um, Prinzessin", entgegnete eine männliche Stimme.

„Danke", sagte Hanni. Sie legte die braune Karte auf das Smartpad und stand von ihrem Schreibtisch auf. Dann verließ sie mit zittrigen Beinen das Büro und betrat ihr Schlafzimmer. Sie verriegelte es von innen und stellte sich neben ihr Bett. Dann griff sich mit den Fingern in die schmale Lücke zwischen Bett und Wand und zog die beiden Spielkarten hervor. Sie setzte sich mit verschränkten Beinen auf das Bett und legte alle drei Karten in eine Reihe.

An erster Stelle lag die harmlose Pik Dame, in ihrer vollen Blüte.

An zweiter Stelle lag die ermordete Pik Dame, mit dem Dolch in der Brust und den Blutspritzern.

An dritter Stelle lag die unscheinbare Karte mit den Todesdaten der Thronerben.

All diese Karten gaben das Puzzlestück einer grausamen Geschichte wieder. Hanni musste nur herausfinden, was für eine Geschichte dies war. Und das war leichter gedacht als getan.

Seit Wochen grübelte Hanni in jeder einsamen Minute, die ihr noch blieb, darüber nach, wer die Spielkarten auf ihre Fensterbank gelegt haben könnte – und warum. Aber es war nun mal keine einfache Frage und ganz ohne Hilfe war es beinahe unmöglich, sie zu beantworten. Das musste Hanni sich nun eingestehen. Dazu kam, dass auch für den Ursprung dieser Karte keine wirklichen Indizien vorlagen. Denn da diese Etage nicht videoüberwacht war, war es ein Ding der Unmöglichkeit herauszufinden, wer das Kuvert versteckt hatte. Ein Reinigungsroboter reinigte das Büro alle 3 bis 4 Tage. D.h. der oder die Unbekannte hatten so lange Zeit gehabt, das unauffällige Kuvert dort zu platzieren. Möglicherweise lag es schon Tage dort und es war dem Roboter, genau wie ihr, entgangen.

Jeder, der Zugang zu diesem Büro hatte, konnte das Kuvert dort platziert haben. Alle Sicherheitspersonale, Techniker, die Servicepersonale, selbst die Küchenpersonale. Darüber hinaus der Kanzler oder Albert, selbst Konstantin war für diesen Bereich freigeschaltet. Und das waren in Summe gut zwei Dutzend Menschen.

Hanni schüttelte den Kopf. Nein, mit dieser Frage würde sie nicht weiterkommen, egal wie lange sie noch darüber nachdachte. Sie musste einen anderen Weg finden. Irgendwie musste sie weitere Informationen beschaffen. Aber wie? Ihr Smartpad würde sie dafür nicht nutzen können, wenn sie Alberts Worten Glauben schenkte, war unklar, wer ihren Suchverlauf einsehen konnte. Sie musste jemanden bitten, ihr sein Smartpad zu leihen. Oder noch besser, sie musste jemanden finden, der die Masse aller in Frage kommender Personen für sie recherchierte. Oder hackte.

Und da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

„Tomek", flüsterte sie. Natürlich. Er war der Richtige! Er war der Einzige, der ihr helfen konnte. Er hatte ihr immer geholfen, war immer für sie dagewesen. Manchmal hatten sie wochenlang nicht miteinander gesprochen, dann Nächte lang geschrieben. Tomek war der einzige Mensch, dem sie blind ihr Leben anvertrauen würde. Jetzt, da Tante Peggy nicht mehr da war. Er war immer ihr Fels in der Brandung gewesen, ihr Anker. 

Nur, wie würde sie Tomek finden, ohne die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken? Denn Tomek war ein Teil der übermächtigen Grauzone Berlins, ein Wesen umgeben von Schatten, führte ein Leben im Verborgenen. Das Schlimmste, was sie ihm antun konnte, war den Lichtstrahl der Regierung auf ihn zu richten. Seine Nummer und seine Nachrichten hatte sie gelöscht, in der Nacht, bevor Albert ihr Smartpad ausgetauscht hatte. Auswendig konnte sie seine ID nicht, davon abgesehen wechselt er mindestens dreimal im Jahr seinen Kontaktdaten, um dauerhaft unerkannt zu bleiben. Nein, digital würde sie ihn nicht finden. Sie musste ihn physisch finden. Irgendwo in den nächtlichen Wirren Berlins. Aber wie?  

Tage und Nächte lang zerbrach sie sich den Kopf. Ihre Gedanken schweiften zu Tomek, während sie eigentlich die geheimen, handgeschriebenen Dossiers durchlesen sollte, die sie schließlich heimlich und ungelesen verbrannte. Ihre Gedanken fanden Tomek, während Albert sie durch die Details der Ermittlungen rund um den Umsturzversucht führte. Bereits beim Frühstück dachte sie nach und grübelte noch immer, wenn sie das Licht ausschaltete.

Und dabei kam sie zu einem Entschluss: Sie musste einen Weg finden, das Schloss in der Nacht zu verlassen, um auf den verruchtesten und verzweifelsten Partys in Berlin nach Tomek Ausschau zu halten. Und da sie allein das Schloss niemals verlassen konnte, brauchte sie Hilfe. Entweder von Albert oder von Konstantin. Albert, mit all seiner grunddeutschen Effizienz und Spießigkeit würde sie mit Sicherheit aus dem Schloss bringen können und dafür sorgen, dass ihr nichts passierte. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass er ihr bei diesem waghalsigen Plan half, ging gegen Null. Er war zu clever und zu misstrauisch, würde zu viele Fragen stellen. Konstantin, hingegen, war ein Spieler. Auch er würde Mittel und Wege kennen, sie aus dem Schloss zu bringen, nur würde er alles etwas leichter sehen, den Spaß an der Sache erkennen, sich möglicherweise von ihr blenden lassen.

Und so entwarf sie schließlich einen Plan.

Tief verborgen, in ihrem Kopf, den noch niemand anzapfen konnte und den noch niemand zu hacken vermochte.

Operation Pik Dame | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt