Kapitel 26: Doppelläufer

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Es dauerte eine Ewigkeit, bis Hanni an diesem Abend in den Schlaf fand. Und der wenige Schlaf, der ihr blieb, war durchzogen von wirren Träumen, ineinander verschwimmende Spielkarten, Gesichter und Körper, über die Tränen, Regentropfen und Blut liefen. Regelmäßig zuckte sie aus dem Halbschlaf, saß senkrecht im Bett und blickte um sich. Tastete ihr Bett ab, ob Konstantin wie so oft neben ihr lag, mit seinem warmen, muskulösen Körper. Ob alles nur ein wirrer Traum gewesen war.

Doch niemand war dort. Und es war kein Traum. Sie war allein in ihrem Schlafzimmer. Bewacht, in einem Schloss. Ein Schloss, dessen digitale Sicherheitskontrolle man mit Menschen aufgestockt hatte. Menschen mit Waffen, die auf sie achtgaben. Die niemanden zu ihr vorließen.

Also legte sie sich wieder hin und versuchte weiter zu schlafen. Aber ihr Gehirn war viel zu sehr damit beschäftigt, die Panik und das Adrenalin der Geschehnisse zu verarbeiten. Und damit, Konstantin zu verteufeln.

Konstantin, den Verräter. Den Attentäter. Den Mörder. Den Dreckskerl. Den Abschaum. Oh, ihr Gehirn fand so schrecklich viele Schimpfwörter für ihn, dass sie sie nicht mehr zählen konnte. Dass ihr der Kopf rauchte. Er hatte es vollumfänglich geschafft, sie zu täuschen. Und diese Tatsache machte sie beinahe so wütend wie sein Verrat! Er war in ihr Bett gekrochen, hat sich ihr Vertrauen erschlichen, nur um sie dann hinterrücks zu erstechen. Mit einem Augenzwinkern hatte er sich von ihr verabschiedet, wohl wissend, dass er sie nicht mehr wiedersehen würde. Was für ein Monster tat so etwas? Ihr Gehirn schimpfte sich stumm in Rage, ließ ihren Puls höherschlagen. Machte aus Erschöpfung, Panik und Angst brodelnde Wut. So schlief sie erst ein, als es vor ihrem Fenster bereits langsam hell wurde. 

Die Sicherheitskräfte weckten Hanni am Mittag mit einem vorsichtigen Klopfen an der Tür, denn der Kanzler war auf dem Weg zu ihr. Und im Gepäck hatte er sicher eine gewaltige Standpauke, die sich gewaschen hatte. Im Schneckentempo zog sich Hanni an, ihre Glieder waren schwer. Sie spürte noch immer ihre blauen Knie und die Handflächen, dort, wo sie auf dem Asphalt gelandet war, als Albert sie abgeschirmt hatte. Bei dem Gedanken an Albert kribbelte ihr Magen verdächtig. Blendete die Wut, die dort mit eiserner Faust in ihren Gedärmen regierte, für einen Moment aus. Wieder spürte sie Alberts Gewicht auf sich, wie er sie zu Boden gedrückt hatte, ihren Körper mit seinem abschirmt hatte. Sie spürte, wie seine großen, warmen Hände in ihre Haaren gefahren waren, wie er ihren Kopf vorsichtig festgehalten hatte. 

Sie musste mit ihm sprechen. Da war sich Hanni sicher. Konnte nicht mehr darauf warten, dass er ihr auswich und sich erst dann wieder zeigte, wenn er die Mauer aus Haltung und Etikette wieder vollständig aufgebaut hatte. Nein, sie musste etwas tun. Jetzt, wo sie wusste, dass sie ihm nicht völlig gleichgültig war. Dass er sie nicht mit all seinem Sein verabscheut. Dass sie ihm ihr Leben anvertrauen konnte. Dass ihr Magen noch immer zu kribbeln begann, wie sie nur im Entferntesten an den Kuss dachte.

Es führte kein Weg daran vorbei: Sie musste ihn darauf ansprechen, was zwischen ihnen war. Auch wenn sie sich erneut bis aufs Blut blamieren würde. Auch wenn sie wusste, dass er dagegen ankämpfen würde. Aber sie musste es wagen. Denn möglicherweise, da war er es wert.

Der Kanzler saß bereits hinter ihrem Schreibtisch, als Hanni mit dem Gedanken noch immer bei Albert das Büro betrat. Vor ihm stand ein Tablett mit Frühstück, dass er nicht angerührt hatte. Seine Miene grau, die Furchen tief eingesunken. Der Schlaf war auch zu ihm nicht gnädig gewesen, in dieser Nacht.

„Setzen Sie sich Hanni", sagte er mit leiser Stimme, kraftlos. Sie nahm auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz, dort, wo sonst immer ihre eigenen Gäste saßen. Er stützte seine Ellenbogen auf der Schreibtischplatte auf und versenkte sein Gesicht in den Handflächen. Sie hörte, wie er rasselnd ausatmete. „Egal, wer dort oben im Universum über uns wacht, er oder sie ist auf ihrer Seite", sagte er, ohne sie anzublicken. Dann seufzte er schwer und hob sein Gesicht. Seine Augen fanden ihre, hielten sie. „Ich muss Ihnen nicht sagen, dass es fahrlässig war, Müller aus dem Schloss zu folgen. Das wissen Sie selbst. Möglicherweise haben Sie es genau deswegen getan." Er schüttelte den Kopf. „Wissen Sie, ich mache mir selbst die größten Vorwürfe. Schließlich habe ich ihn ausgewählt. Albert, müssen Sie wissen, war von Beginn an dagegen. Aber die Ergebnisse, die Müller mit Ihnen erzielt hat, waren gut. Sehr gut sogar. Wer hätte ahnen können..." Er schweifte ab, versenkte sein Gesicht wieder in seinen Handflächen.

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