Kapitel 1: Joker

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Die ersten Tage des neuen Jahres waren so zähflüssig dahingeronnen, wie die letzten Tage des alten. Graue Wolken besiedelten den Himmel, ein düsterer Filter, der die Welt noch trister wirken ließ als sie ohnehin schon war. Der Blick aus Hannis Fenster hatte sich nicht gelohnt, ebenso wenig wie einsame Spaziergänge durch die letzten, verbliebenen Parks Berlins. Doch ihr Kühlschrank war leer und ihre Vorräte an Instand-Nudeln und Pulver-Vitamin-Shakes aufgebraucht. Sie musste ihre Lebensmittel abholen, die Lieferkosten gab sie lieber für ein kostbares Päckchen Zigaretten aus. Oldschool. Die meisten Leute rauchten E-Zigaretten, wenn sie überhaupt noch rauchten. Hanni war mit ihren 29 Jahren ein fester Bestandteil einer aussterbenden Art. Dennoch war es der einzige Luxus, den sie sich heutzutage noch gönnte, und sie wollte nicht darauf verzichten. Hatte sie diesen Verhaltenszug doch von Tante Peggy übernommen.

Also zog sie ihre Funktionsjacke an und lief zu Fuß zum nächsten Lebensmittellager. Sie hatte Glück, bei diesem Wetter traute sich beinahe niemand nach draußen und die Schlange war kurz. Als sie vor dem Automaten stand, nannte sie mürrisch ihre Bundesmediennummer und erhielt wenige Minuten später am Ausgabefenster ihre Bestellung, lieblos überreicht von einem metallenen Roboterarm.

Kurz überlegte sie, ob sie sich zur Belohnung sofort eine Zigarette anzünden sollte, doch nach einem ernüchternden Blick in den grauen Himmel lief sie los. Beinahe schaffte sie es trockenen Fußes nach Hause, doch als sie den ersten Fuß auf die Betontreppe zu ihrem Apartmentgebäude setzte, begannen die Tropfen auf sie herabzuprasseln. Hanni sprintete hinauf zu Tür, schob den Ärmel ihrer Funktionsjacke etwas zurück und scannte den unter der Haut verborgenen Mikrochip an der Innenseite ihres Unterarms. Doch die Tür öffnete sich nicht.

„Zum Teufel!", fluchte sie, scannte den Chip erneut. Doch wieder blieb das erlösende Klicken der Haustür aus. „Wie oft denn noch?" Es war keine Seltenheit, dass sich ihr Chip entzündete. Bereits viermal hatte sie deswegen zum Techniker gehen müssen. Denn immer, wenn das Gewebe um den Chip entzündet war, funktioniert er nur noch fehlerhaft. „Ich werde wahnsinnig!", fluchte Hanni vor sich hin, verzweifelt rüttelte sie an der Tür, während das Recycling-Papier der Lebensmitteltüte immer weiter durchweichte.

„Johanna?", rief jemand laut ihren Namen durch das rhythmische Trommeln der Tropfen. Sie drehte sich um, suchte ihre Umgebung ab und fand am Fuße der Treppe eine edle, schwarze Limousine, mit heruntergelassenem Fenster. „Johanna!", rief die Stimme erneut, offensichtlich aus dem Innersten des Autos. Die Autotür schwang auf und Hanni lief langsam und skeptisch die Treppenstufen hinab. Sie sah unter ihrer Kapuze, wie zwei altmodische, schwarze Schuhe den Weg auf den regennassen Bürgersteig fanden, begleitet von einem schwarzen Regenschirm.

„Kommen Sie zu mir! Kommen Sie ins Trockene", rief die Stimme.

Mit einem Wuuusch öffnete der große, schwarze Schirm und wurde in den grauen Himmel gerichtet. Hanni fand sich beinahe Nasenspitze an Nasenspitze mit einem Mann, der ihr wohlbekannt war, den sie jedoch niemals zuvor in ihrem Leben persönlich getroffen hatte.

„Herr Bundeskanzler", entfuhr es ihr vor lauter Schreck, als sie sich die tropfnasse Kapuze vom Kopf strich. Der ältere Herr nickte und lächelte ihr zu, seine Augenwinkel faltig und sein Lächeln herzlich.

„Johanna", sagte er und reichte ihr seine freie Hand. Sie ergriff sie vor lauter Schreck und ließ ihre Hand von ihrem Gegenüber durchschütteln. Er blickte ihr tief in die Augen. „Wir haben etwas zu besprechen, Sie und ich. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mit mir in den Wagen zu steigen? Für gewöhnlich würde ich einen erfrischenden Spaziergang vorschlagen, aber bei diesem Wetter wäre dies vermutlich zu erfrischend." Er lachte über seinen eigenen Witz und nickte seinen Kopf in Richtung Limousine. Doch Hanni war noch immer zu verblüfft, um auf seinen Vorschlag einzugehen.

Operation Pik Dame | ✔️Where stories live. Discover now