Kapitel 9: All In

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So vergingen weitere Wochen, in denen der Alltag tatsächlich etwas leichter wurde. Hanni wurde aktiver in ihrem Unterricht, brachte sich mehr ein. Sie bemerkte an sich selbst, wie sie immer tiefer in die Themen eintauchte und die Thematik immer ernster nahm. Beinahe konnte sie die starre Ernsthaftigkeit von Albert etwas verstehen.

Auch ihr Verhältnis hatte sich etwas gebessert, die Böswilligkeit in seinem Blick war zurückgewichen, die Sperrspitze seiner Kommentare merklich runder geworden. Noch immer hielt er sie auf ihren Zehenspitzen, aber mit etwas mehr Gnade und Geduld. Es schien Hanni manchmal gerade so, als hatte die nächtliche Aussprache in der Küche und ihre klare Aussage, ihn niemals heiraten zu wollen, dazu geführt, dass er sie nicht mehr täglich davon überzeugen musste, dass er ein Scheusal war. Und so sehr sie sich auch dagegen wehrte: diese Tatsache machte sie neugierig.

Manchmal, da ertappte sich Hanni selbst dabei, wie sie ihn eine Sekunde zu lange anstarrte. Wie sie sich den jungen Mann im T-Shirt, in der Jogginghose und den Wuschelhaaren zurückwünschte. Der im sterilen Licht der Küchenbeleuchtung um zwei Uhr nachts so viel normaler gewirkt hatte. Ganz ohne Pullunder und ohne seine Technik-Nerd-Hornbrille. Aber dieser Mann hatte sich seitdem nicht mehr gezeigt. Und obwohl sie sich jetzt duzten und öfter mit Franz Friedrich gemeinsam frühstückten oder zu Mittag aßen, so musste Hanni sich eingestehen, dass sie nichts über die Persönlichkeit und das Leben von Albert wusste. Er ließ sie nicht hinter seine Fassade aus Hornbrille, Pullunder und viel zu starrem Rückgrat blicken. Und Hanni war sich an manchen Tagen gar nicht so sicher, ob es überhaupt eine Fassade war oder ob es fest mit seiner Persönlichkeit verschmolzen war. Wie gerne hätte sie Tomek darum gebeten, sich in Alberts Leben zu hacken und ihr alle notwendigen Informationen zukommen zu lassen. Aber das war hier, irgendwo im nirgendwo, abgehängt vom Internet, nun mal nicht möglich. So musste sich Hanni mit dem zufriedengehen, was sie hatte. Und das war nun mal nicht viel.

Was sie nicht leugnen konnte war, dass Albert ihr mit Hilfe der Schulungshologramme vieles beibrachte, was für ihre Rolle als Kaiserin unabdinglich war. Befugnisse und Rituale, die sie nach der Krönung ausführen musste. Die gesetzliche Lage rund um die Machtübernahme. Die Struktur, die Führung und die Stärken und Tücken der Bundeswehr, die einem altersschwachen, lärmenden aber zugleich lahmen Tiger glich, der aber noch nicht alle Zähne verloren hatte. Er erklärte ihr die Zusammensetzung des Bundestags, die Problematik der viel zu vielen rechten Populisten und der lauten, gewaltbereiten Linken Seite. Er ging auf die Ideenlosigkeit der immer schmaler werden Mitte ein, die den Problemen im Land schon seit langem nicht mehr Herr wurden. Wie sie sich mit Reformen, nach Reformen, nach Reformen abmühten, ohne sich einig zu werden, ohne einen Konsens zu finden. Da die Vorstellungen der Menschen so sehr auseinander gingen und da bisher noch niemand den richtigen Weg zu beschreiten wusste.

Desto mehr sie sich damit beschäftigte, desto öfter dachte Hanni an Dornröschen. Deutschland, mit all seinen Einwohnern, war eine uralte Burg, die sich im tiefen, traumlosen Schlaf befand. Die meisten Menschen wandelten ohne Visionen und feste Zukunftspläne durch die Gänge der Burg, viel zu ängstlich, zu viel von ihren schmalen Besitztümern zu riskieren, bevor die nächste Krise das Risiko mit Verlust strafte. Der Mangel an Therapieplätzen war so groß, die Anzahl der psychisch gefestigten und fähigen Psychologen viel zu gering. Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit hatten dieses Land fest im Griff, genau wie der Fluch Dornröschen.

Und Hanni konnte das nur zu gut selbst verstehen. Sie hatte über ein halbes Jahr ihr mickriges Appartement nur verlassen, um sich mit Lebensmitteln und Zigaretten einzudecken. Der winzige Balkon ihre einzige Chance auf frische Luft. Und Zigarettenqualm. Nach dem Tod von Tante Peggy hatte sie nichts mehr gehalten. Keine sozialen Strukturen, keine neuen Ziele, keine Motivation, nichts war mehr geblieben. Außer vielleicht die ewigen, nächtlichen Chats mit Tomek, der sie das ein oder andere Mal sogar in ihrem selbst gewählten Verlies besucht hatte. Sie war nah dran gewesen, ihrer Mutter zu folgen. Erst in die Depression. Dann in den Wahnsinn. Und vielleicht irgendwann einen Schritt weiter?

Wie sollte man ein Land wieder in den Griff bekommen, das tief und fest schlief? Ein Land, das auf Beschluss der nationalen Ärztekonferenz mit dem Leitungswasser Antidepressiva verabreicht bekam? Das gar keine Ideen und keine Kraft mehr für einen U-Turn hatte?

Aber genau das trieb Hanni an. Genau diese Frage reifte Tag für Tag und Woche für Woche etwas mehr in ihr. Die Frage gab ihr Antrieb, gab ihr Kraft für lange Tage und noch längere Nächte in der Bücherei. Die Beantwortung dieser Frage entwickelte sich nach und nach zur Zielstellung ihres Lebens. Ihr Leben hatte plötzlich einen Inhalt, für den es sich wieder zu kämpfen lohnte! Denn sie hatte nun eine Chance, aus ihrem Tunnel herauszukommen. Musste ihre Generation und ihr Leben nicht länger als gescheiter, vergessen, abgeschrieben titulieren. Es dauerte noch Wochen, vielleicht Monate, dann würde sie die Zügel in der Hand haben. Dann könnte sie etwas bewegen! Dann konnte sie Entscheidungen treffen, die mutig waren und die das Land voranbrachten. Sie konnte Dornröschen wachküssen. Wofür braucht man schon Prinzen, Kaiserinnen waren doch mindestens genauso gut dafür geeignet! Und mit all dem Makeover, dem guten Essen, den zusätzlichen Kilos und der Landluft würde sich Dornröschen vermutlich auch noch über ihren Anblick freuen! Selbst das Rauchen hatte sie aufgegeben! Nach langem Überlegen hatte siedie Pillen vom Kanzler eingenommen und seitdem keine einzige Zigarette mehrgeraucht. Das würde den Kuss also auch nicht stören...

Hanni lächelte bei diesem Gedanken, während sie nach einer kurzen Ruhepause die unebenen Stufen der Treppe hinunter zum Speisesaal stieg. Als sie beiläufig aus dem Fenster in den Innenhof blickte, nahm sie dort eine Bewegung wahr. Es war Albert, der bekleidet in einer kurzen Shorts und einem hautengen Funktions-Long-Shirt die Treppe hinaufjoggte. Sie hielt einen Moment inne, sah ihm nach, wie er auf ihre Terrasse joggte und dort im einsetzenden Dämmerlicht damit begann, sich auszudehnen. Ohne seine Brille, ohne einen Pullunder aber dafür mit furchtbar wuscheligen Haaren.

Schnell riss sie ihren Blick los, lief die verbleibenden Stufen nach unten und setzte sich gegenüber von Franz Friedrich an den Esstisch.

Operation Pik Dame | ✔️Where stories live. Discover now