Kapitel 16: Kaisern

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Die Ansprache an das Volk durch den Kanzler und den Bundespräsidenten hatte den Startschuss gesetzt. Den Startschuss für eine ganze Reihe an Aktivitäten. Hanni wusste bis ins kleinste Detail auswendig, was nun geschehen würde: Die vorbereiteten Bilder, Videos und Briefings würden an die Nachrichtenagenturen und Sender verschickt, die Interviews und Werbevideos würden im ganzen Land verbreitet werden. Am Ende dieses einen Tages, da würde jedes Kind ihr Gesicht kennen. Und ihren Namen: Prinzessin Regine von Hohenzollern, die zukünftige Kaiserin von Deutschland.  

Für sie selbst verging der Rest des Tages wie in einem Film. Unmittelbar nach der Rede machten sich der Kanzler und der Bundespräsident auf dem Weg zu ihr. Zunächst besprachen sie das aktuelle Stimmungsbild, dann öffnete der Kanzler ihre Bürotür für eine Heerschar an Abgeordneten. Alle wichtigen Verbündeten des Kanzlers wurden zu ihr geführt, wurden ihr vorgestellt und waren allesamt unsicher, wie sie sie ansprechen sollten. Einige knicksten ungelenk, andere neigten den Kopf, wieder andere starrten sie unverfroren an. Die meisten von ihnen noch immer viel zu überrumpelt von den Ereignissen des Tages, um ihr Verhalten und ihre Manieren hinterfragen zu können.

Es schien Hanni, als beobachtete sie das ganze Geschehen wie aus einer Vogelperspektive. Als hing sie wie eine Lampe an der Decke und überblickte das Treiben im Büro als unbeteiligtes Möbelstück. Sie konnte sich keine Namen merken, vergaß beinahe augenblicklich die Gesichter der Gäste wieder, nachdem sie ihr Büro verlassen hatten. Es war alles so unwirklich.

Aber der Kanzler war mit ihr zufrieden, und das zählte. Als am späten Abend die Flut der Besucher abgerissen hatte und sie gemeinsam vor einer Platte mit Häppchen an ihrem Meetingtisch im Büro saßen, lächelte er.

„Ich bin stolz auf Sie, Hanni. Ihren ersten Arbeitstag haben Sie mit Bravour gemeistert. Herr Müller hat mir gerade die Auswertung des Stimmungsbildes in der Bevölkerung zukommen lassen: Die Nachricht ist eingeschlagen wie eine Bombe, dominierte alles. Die Reaktion reicht von überraschter Erstarrung, erster Abneigung bis hin zu Jubelstürmen. Aber der Grundtenor ist positiv. Wirklich positiv." Er tätschelte zwischen zwei Häppchen sogar ihre Hand. „Operation Pik Dame hat eine gute Erfolgschance, Hanni. Nur wegen Ihnen. Machen Sie weiter so." Als sie fertig gegessen hatte und Hanni immer öfter Gähnen musste, stand der Kanzler schließlich auf.

„Ich lasse Sie allein, Hanni. Sie gehören ins Bett, schließlich wartet morgen der nächste wichtige Tag." Er gab ihr die Hand und lief zur Tür. Doch bevor er sie öffnete, drehte er sich noch einmal um. „Fast hätte ich es vergessen. Ich soll Sie von Herrn Müller grüßen. Wenn er aus der heißen Kampagnen-Phase heraus ist, dann wird er bald wieder bei Ihnen sein, um Sie zu unterstützen." Dann ging er und ließ sie allein.

Als sie an diesem Abend schließlich kurz vor Mitternacht mit noch immer flatternden Nerven im Bett lag und die Augen schloss, da konnte sie nicht einschlafen. Ihre Ohren rauschten noch immer, Bilder schossen von links nach rechts und wieder zurück. Und zwischen all dem Geflimmer fiel Hanni auf, dass sie den ersten Tag in Wochen komplett ohne Albert verbracht hatte. Kein gemeinsames Frühstück, keine Unterrichtsstunden zu Cybersicherheit oder Staatslehre, keine seltsam unpersönlichen Essen. Und keine Beobachtungen beim Sporttreiben. Auch fiel Hanni wieder ein, dass sie keinerlei Möglichkeit hatte, ihn zu erreichen. Er hatte sein Smartpad nicht mit ihrem verbunden, sie konnte ihn weder anschreiben noch anrufen. Sicher, sie konnte den Kanzler nach ihm fragen, konnte ihm Grüße ausrichten, so wie es Konstantin getan hatte. Aber das wollte sie nicht.

Sie würde abwarten. Abwarten, bis er sich das nächste Mal zeigte. Sie würde sich nicht die Blöße geben und nach ihm fragen. Sollte er doch zu ihr kommen! Schließlich war sie kein niemand. Nein, sie war die nächste Kaiserin in diesem Land, verdammt!

Nicht nur in dieser Nacht, auch an den nächsten Tagen musste sich Hanni immer wieder daran erinnern, wer sie war. Musste sich kneifen, um sicher zu stellen, dass sie nicht doch träumte. Denn auch, wenn sie sich gut an ihren neuen Alltag als Thronerbin gewöhnte, so wirkte es manchmal wie eine Parallel-Welt. Denn was immer sie tat, die hohen, schützenden Mauern von Schloss Bellevue verließ sie nie. Noch immer war sie aus Sicherheitsgründen hinter Stein und Metall gefangen.

Operation Pik Dame | ✔️Where stories live. Discover now