eins

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Schon als ich morgens aufwache, merke ich, dass heute kein guter Tag wird. Am liebsten würde ich mich umdrehen und einfach liegen bleiben. Doch mein penetrant klingelnder Wecker brüllt mich förmlich an, dass das keine ernsthafte Option ist. Mühsam schwinge ich mich aus dem Bett und eile ins Bad, um es noch vor meinem Bruder Theo unter die Dusche zu schaffen – wenn der erst einmal das Bad blockiert hat, habe ich keine Chance mehr, mich noch vor der Schule zu duschen. Bei ihm dauert es in der Regel ewig, bis er mit seiner morgendlichen Routine fertig ist. Was genau er so lange macht, weiß ich auch nicht – für mich sieht er nach dem Bad aus wie davor, nur dass er etwas frischer riecht und die Haare besser sitzen.

Ich lasse das lauwarme Wasser auf meinen Körper prasseln und genieße kurz den Moment. Immer noch bin ich mir nicht sicher, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, heute überhaupt aufzustehen. Ich habe Kopfschmerzen, und zwar die Art von Kopfschmerzen, die darauf hindeuten, dass heute etwas passieren könnte. Außerdem fühle ich mich zittrig.

Eine lange Zeit unter der Dusche gönne ich mir nicht, sondern beeile mich, damit Theo noch ausreichend Zeit hat. Ich bin schließlich eine nette und rücksichtsvolle Schwester - was man von ihm als Bruder, zumindest im Hinblick auf die Badezimmersituation, nicht immer behaupten kann. In meinem Zimmer stehe ich kurz ratlos vor meinem Kleiderschrank, der leider nicht besonders groß ist. Ich mache mir nicht allzu viel aus Klamotten und würde auch nie von meinen Eltern verlangen, mir irgendwelche teuren Markensachen zu kaufen. Es ist nicht so, als hätten meine Eltern wenig Geld, aber so etwas ist für mich einfach eine unnötige Ausgabe. Theo ist da anders, er legt deutlich mehr Wert auf sein Erscheinungsbild als ich. Manchmal frage ich mich, ob wir wirklich verwandt sind bei all unseren Unterschieden.

Ich entscheide mich für ein gemütliches Outfit mit einer Stoffhose und einem flauschigen Pullover. Wenn ich mich schon nicht gut fühle, dann kann mir vielleicht wenigstens das helfen. Meine blonden Haare binde ich wie immer zu einem leicht zerzausten Dutt. Ein kurzer Blick um den Spiegel reicht mir, dann gehe ich die Treppe nach unten in die Küche.

„Guten Morgen.", begrüßt Mama mich. Papa ist schon bei der Arbeit, er hat heute Frühschicht. Er ist Unfallchirurg in einem Krankenhaus. Ein ziemlich aufregender Beruf, der aber auch mit sehr viel Stress und doofen Arbeitszeiten verbunden ist. Mama arbeitet halbtags in einer Buchhandlung bei uns in der Stadt.

„Morgen.", murmele ich und setze mich an den Küchentisch. Ich fühle mich jetzt schon schlapp. Wie soll der Tag nur noch werden? Immerhin habe ich heute nur bis mittags Schule.

„Bist du nicht gut drauf?", fragt Mama.

Ich zucke mit den Schultern. „Mir geht es nicht so gut. Ich habe Vorgefühle."

Mama runzelt die Stirn. „Bist du dir sicher? Wie äußert sich das?"

„Ich habe Kopfschmerzen und fühle mich irgendwie einfach... wacklig auf den Beinen. Schwierig zu beschreiben.", antworte ich.

Mama stellt meine Kiste mit meinen Medikamenten vor mir ab. Ich werfe mir alle auf einmal in den Mund und schlucke sie dann mit einem großen Schluck Wasser hinunter – mittlerweile habe ich mich so daran gewöhnt, dass es mir überhaupt nichts mehr ausmacht. Seit ich elf Jahre alt bin, habe ich Epilepsie. Der erste Anfall kam damals völlig aus dem nichts. Die Diagnose war natürlich ein ziemlicher Schock für meine Familie und mich. Mittlerweile haben wir uns alle ganz gut daran gewöhnt. Durch meine Medikamente bekomme ich mittlerweile auch nur noch sehr selten Anfälle. Der letzte ist schon über ein halbes Jahr her. Daher ist es ziemlich frustrierend, heute wieder Vorgefühle zu haben.

„Also denkst du, dass du einen Anfall bekommst?", hakt Mama nach.

Ich seufze etwas genervt. „Weiß ich doch auch nicht, Mama." Meine Vorgefühle sind oft, aber nicht immer zuverlässig. Es gab auch Tage, an denen ich extra zu Hause geblieben bin, weil ich glaubte, einen Anfall zu bekommen, und an denen letzten Endes nichts passiert ist. Deshalb habe ich irgendwann beschlossen, einfach normal weiterzumachen und mich nicht davon einschränken zu lassen.

„Du kannst ja erst einmal zur Schule gehen und wenn es doch schlimmer wird, kommst du einfach nach Hause. Was denkst du?", schlägt Mama vor.

Ich nicke, während ich eine Schale mit Müsli befülle – auch wenn ihr Vorschlag nicht unbedingt der allerbeste ist. Wenn es schlimmer wird, es ist es wahrscheinlich schon zu spät. Allerdings wollte ich sowieso zur Schule. Ab jetzt zählen meine Noten für das Abitur und ich will mir eigentlich keine unnötigen Fehltage erlauben.

In diesem Moment betritt mein Bruder die Küche. „Morgen.", sagt er und setzt sich mir gegenüber an den Tisch. Auch Mama setzt sich kurz dazu.

„Morgen, Theo.", sagt sie. „Hör mal – Malu geht es heute nicht so gut. Es wäre nett, wenn du in der Schule zwischendurch mal ein Auge auf sie haben könntest."

„Natürlich.", sagt Theo sofort. Er schaut mich besorgt an.

„Mama!", protestiere ich. „Das ist echt nicht..."

„Oh doch, das ist nötig.", sagt Mama. „Keine Widerrede. Ich will mir nicht den ganzen Tag Sorgen machen müssen."

Ich erwidere nichts mehr. Trotzdem ist die Aussicht, dass Theo meinen Aufpasser spielen soll, nicht besonders verlockend. Theo und ich haben eigentlich ein sehr gutes und enges Verhältnis – außer in der Schule. Ich kann mit seinen Freunden wirklich absolut nichts anfangen. Es ist mir ein Rätsel, wie so ein netter Mensch wie Theo mit solchen Arschlöchern befreundet sein kann. Allen voran sein bester Freund Joshua, oder kurz Josh. Sie verabscheuen mich und ich verabscheue sie, das ist ein offenes Geheimnis. Wir haben völlig unterschiedliche Lebensrealitäten: Mir ist die Schule wichtig, ich habe wenige bis gar keine Freundinnen, lege wenig Wert auf mein Äußeres und auf Partys findet man mich niemals. Sie dagegen sind völlig oberflächlich und scheinen sich nur für Mädchen, Feiern und sich selbst zu interessieren. Dass sie von meinem Lebensstil nichts halten, lassen sie mich auch spüren. Der Einzige, der das nicht zu verstehen scheint, ist Theo. Er denkt immer noch, dass wir wirklich gute Freunde werden könnten, wenn ich mich nur mal auf sie einlassen würde. Im Leben nicht.

controlWhere stories live. Discover now