Kapitel 55

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Im vergangenen Monat war einiges passiert.
Neo hatte sich dazu entschieden, tatsächlich nach Mailand zu gehen, der Wechsel stand kurz bevor.
Morgen würde ich wieder nach Madrid ziehen, wobei es mehr wie ein ewiger Urlaub wirkte.
Ich hatte mich dazu entschlossen, die Wohnung in München erstmal noch nicht zu vermieten. Vielleicht würde ich es irgendwann tun, aber momentan war mir das mit den Möbeln zu kompliziert.
Ich würde stattdessen nur einen Teil meines Krams mitnehmen und den Rest einfach hier lassen.
Einige meiner Sachen befanden sich eh noch in Madrid, anderes würde ich dort neu besorgen und außerdem benötigte ich in ein paar Monaten sowieso Umstandsmode.
Anastasia befand sich mittlerweile in der 20. Schwangerschaftswoche und wir würden diese Woche mit ihr zum Arzt gehen. Sie hatte bisher darauf verzichtet, das Geschlecht zu erfahren, was bedeutete, dass wir es alle drei zusammen erfahren würden.
Wir hatten in der Zwischenzeit auch unseren beiden Familien von den beiden Babys erzählt, die Reaktionen waren alle etwas unterschiedlich ausgefallen.
Meine Mutter sah unsere Ehe nach Jamals Verhalten eh etwas kritisch, genauso wie der Rest meiner Familie. Dass er nun auch noch ein Kind mit dieser Frau erwartete, entsprach ganz und gar nicht ihren Wünschen.
Auch Carolin, Jamals Papa und Neo standen Baby Nummer zwei beziehungsweise eins etwas strittig gegenüber. Aber allen war auch bewusst, dass es sich nicht ändern ließ. Jamals Mama hatte daher auch sehr lange mit mir darüber geredet, wie toll sie es fand, dass wir das trotzdem zusammen durchstanden.
Carolin war einfach ein Engel.

„Du hast alles?", fragte Jamal, ich nickte.
„Selbst wenn nicht, jetzt ist es auch ein bisschen zu spät...", wir standen bereits am Flughafen.
„Wir sehen uns doch eh bald wieder. Wenn was fehlt, bringen wir es dir mit nach Mailand.", ich sah Carolin dankbar an.
„Ich werde dich vermissen.", murmelte Lilli dann, als sie mich zum Abschied in eine Umarmung zog.
„Oh ich dich auch, Lil."
„Und versprich mir eins: Sollte Jamal wieder Scheiße bauen, sag unbedingt Bescheid. Ich komme sofort, um ihm den Kopf zu waschen.", meinte sie leise, ich lachte.
„Hoffentlich muss ich auf das Angebot nicht zurückgreifen... Aber komm uns doch trotzdem besuchen. Du weißt, dass du immer willkommen bist, Lil. Und wenn es um die Flugkosten geht, schreib mir, ich buche dir einen.", Lilli drückte mich noch fester.
„Pass auf mit solchen Aussagen, sonst stehe ich bereits morgen auf eurer Matte. Ohne Neo, Mama und euch wird es hier bestimmt schrecklich langweilig.", sie grinste und strich sich dann eine Träne aus dem Augenwinkel.
Ich hob entsetzt meinen Zeigefinger hoch und meinte scherzhaft drohend: „Oh nein, wein bloß nicht, sonst muss ich auch weinen!"
Lachend drehte sie sich weg, weshalb Carolin mich verabschiedete.
„Ach Juli, jetzt muss ich dich wieder gehen lassen...", sie sah mich traurig an und zog mich in eine Umarmung.
„Spätestens wenn ein Baby da ist, erwarte ich deinen Besuch, Oma."
Sie schlug mir leicht gegen die Schulter und lachte.
Dann drehte ich mich zu Neo, um auch ihn feste zu umarmen.
„Wir sehen uns ja dann alle bald in Mailand wieder.", meinte ich zuversichtlich und drückte ihn etwas fester.
„Pünktlich zur Unterschrift bitte."
„Aber natürlich. Und dann werden Häuser angeguckt?"
„Wenn du es anschließend bezahlst.", erwiderte er trocken, ich grinste.
„Ich glaube, da musst du eher mit Jamal sprechen."
„Wird gemacht.", er salutierte als Witz, ich boxte ihm gegen seinen Oberarm.
„Bis dahin werde ich dich schrecklich vermissen, meine liebste Schwägerin."
„Da du nur eine hast, war das jetzt nur so halbwegs schmeichelnd."
„Oh wenn ich noch eine hätte, wärst du trotzdem meine Liebste.", er lächelte charmant, ich schüttelte meinen Kopf.
„Ich sehe schon, der Wechsel bringt dein Selbstbewusstsein zurück. Derweil solltest du lieber mal Italienisch lernen, anstatt Sprüche klopfen."
„Ich kann beides gleichzeitig: Il tuo profumo è buono."
„Sagt man das auch wirklich so?"
Er stockte: „Ich denke mal... Andernfalls sagt man es ab jetzt so."
„Du bist unmöglich. Abgesehen davon: Eigenlob stinkt.", meinte ich trocken, er grinste selbstsicher.
„Was kann ich denn dafür, dass ich so einen wahnsinnig guten Riecher für Frauendüfte habe."
„Das reicht jetzt.", ich lachte und boxte ihm dieses Mal deutlich härter gegen seinen Oberarm.
Von dem unsicheren Neo aus dem Urlaub war rein gar nichts mehr übrig.
„Ahhh!", theatralisch griff er sich an die getroffene Stelle, „Jamal, schnapp dir deine Frau, die wird mir zu gewalttätig."
„Juli schlägt nur zu, wenn es auch gerechtfertigt ist.", meine Lilli zuckersüß, Neo rollte grinsend mit seinen Augen.
„Wie soll ich Italien eigentlich ohne meine große, böse Schwester überleben?", er stützte seinen Ellenbogen auf Lillis Schulter ab.
„Frag ich mich seit deinen Wechselgedanken auch ständig. Du armer wirst völlig verkümmern."
Neo zeigte ihr grinsend den Mittelfinger.
Jamal sah die beiden erschöpft an: „Juli und ich gehen jetzt, ihr bereitet mir Kopfschmerzen."
„Wir bereiten dich nur auf die nächsten zwanzig Jahre deines Lebens vor, Papa.", rief Neo, als Jamal sich einfach umdrehte, seine Hand hochhob und weglief.
„Er wird ein katastrophaler Vater...", meinte Neo theatralisch.
„Dafür haben die Kinder ja dann den coooolsten Onkel der Welt.", Lilli warf Neo einen vernichtenden Blick zu, der bei ihren Worten seinen Kopf schräg legte.
„Du hast Recht, für das Kindeswohl sollte ich doch lieber nach Real wechseln."
„Neo?"
„Ja, Schwesterherz?"
„Tu uns einen Gefallen und halt deinen Mund."
Beide fingen an zu diskutieren.
Ich verabschiedete mich belustigt ein letztes Mal und folgte dann Jamal.

Es war merkwürdig zu diesem Arzttermin zu gehen. Die Frau zu unterstützen, mit der mich Jamal mehr oder weniger betrogen, ersetzt hatte.
Eine Untersuchung mitzuerleben, die über das Kind ging, das aus diesem Handeln stammte.
Und zudem war da diese Angst, selber erneut zu versagen.
Was, wenn Ana ihr Kind gebahr und ich nicht?
Was, wenn Jamal in diesem Moment zu ihr zurückkehren würde?
Ich vertraute ihm und ich glaubte seinen Versprechen, aber komplett war ich dieses Gefühl nie losgeworden.
Es schlummerte in mir und in genau solchen Momenten kam es hoch.
Die ganze Fahrt über wurde ich das Gefühl nicht los.
Auch nicht, als wir ausstiegen und Ana begrüßten. Ich wusste nicht mal, wie ich das machen sollte. Hallo sagen? Hand geben? Umarmen?
Ihr ging es scheinbar genauso, denn wir endeten schließlich bei einer umständlichen Umarmung.
Jamal war die Situation auch sichtlich unangenehm. Er stand sehr verlegen in der Mitte, bis wir uns auf das Gebäude zubewegten.

„Und Sie wollen es sicher jetzt einfach erfahren? Keine Gender Reveal Party oder sonstiges?", der Arzt sah Ana unsicher an.
Diese schüttelte mit ihrem Kopf und murmelte dann leise: „Bloß nicht."
„Okay, dann darf ich Sie alle beglückwünschen, Sie erwarten einen Jungen."
Ana sah gedankenverloren auf den Bauch, Jamal hob seine Augenbrauen, bevor sich ein breites Strahlen auf seinem Gesicht ausbreitete.
Auch ich begann zu lächeln.
Innerlich schluckte ich allerdings zeitgleich.
Ein Junge...
Es erinnerte mich an den Moment, als wir das Geschlecht unseres Kindes erfahren hatten und an den Moment im Bad, als Blut aus mir herausgeflossen war.
An die Fahrt ins Krankenhaus mit Mathea, einer, wenn nicht der, schlimmsten Momente in meinem Leben.
Es erinnerte mich daran, dass ich in diesem Moment meinen kleinen Jungen im Arm halten könnte und dann nicht hier gewesen wäre.
Jamal sah zu mir und griff nach meiner Hand. Ich wusste nicht, ob er das aus Vorfreude tat oder weil er an das gleiche dachte wie ich oder ob er dachte, dass ich mit der generellen Situation hier nicht klarkam.
Ana wiederum beobachtete diese kleine Geste und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich für einen Bruchteil einer Sekunde. Er hatte überlegend ausgesehen, aber vielleicht konnte ich ihre Gesichtsausdrücke auch einfach nicht deuten.

„Also, wieso wolltet ihr herkommen?", fragte uns Ana, nachdem wir uns in einem Cafe in der Nähe des Arztes niedergelassen hatten.
Jamal sah mich an und rieb dann seine Hände aneinander.
„Wir ähm... müssen dir noch etwas erzählen.", Ana runzelte ihre Stirn, Jamal besänftigte sie sofort, „Es ist nichts schlimmes, wir wollen nur nicht, dass du es von den Medien zuerst erfährst."
Unterbrochen wurde er von einer Bedingung, die unsere Bestellung aufnahm.
Erst als sie wieder weggegangen war, räusperte sich Jamal erneut.
„Juli und ich - ... wir... wir erwarten auch ein Kind."
Zuerst war Anas Gesichtsausdruck regungslos. Die Stirnfalten von eben verblassten, sie starrte einfach nur Jamal an. Dann schien die Nachricht langsam bei ihr anzukommen.
Sie sah auf meinen Bauch.
„Wie... wie weit bist du?"
„Dreizehnte Woche."
Sie schluckte.
„Es tut mir leid, ich ... ich freue mich natürlich für euch, es ist nur ... so überraschend.", sie rang sich ein Lächeln ab, „Kennt ihr das Geschlecht schon?"
Ich schüttelte den Kopf, sie nickte leicht.
Dann zog sie einen Mundwinkel in die Höhe und sah etwas verträumt umher.
„Ein kleines Geschwisterchen also..."

Endless love ? - Jamal MusialaWhere stories live. Discover now