Elvira (X)

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Zum ersten Mal in meinem Leben will ich die Dunkelheit um mich herum haben. Mich verstecken, und nicht die Realität erblicken. Meine Augen schließen vor meiner größten Angst. Von der Erde wenigstens für paar Minuten verschwinden. Unsichtbar sein. Nicht existieren. Aber es ist Unfug, was ich mir vormache.

Noch immer traue ich mich nicht, meine Augen zu öffnen, da ich sonst befürchte, in die grausamen Augen meines Entführer zu blicken. Der Mann, der mich vernichten wird.

Mein Körper zittert stark; meine Tränen fließen, ohne zu stoppen; meine Nase läuft, egal, wie oft ich mir meinen Schnodder hochziehe oder wegwische. Meine Arme sind umschlungen, um mich zu wärmen. Meine Beine sind zur Seite angewinkelt, mein Rücken berührt die kalte Wand.

Schmerzen. Ich spüre nur Schmerzen. Körperlich tut mir der Hals weh, ebenso meine Handgelenke, die bestimmt mit blauen Flecken übersät sind. Noch immer kann ich seine rauen, festen und dreckigen Hände an meiner Haut fühlen. Wie er mich gepackt hat, seinen Körper ohne Scheu an mich gepresst hat, seine Hände an meinem Körper gewandert...Schmutzig. Unrein. Ekelig. Schamlos. Ich fühle mich verdreckt.

Leise nehme ich etwas im Raum wahr. Jemand ist hier und bewegt sich. Soll ich meine Augen öffnen? Soll ich mich der Wahrheit stellen und akzeptieren, dass ich in solch einer Lage bin?

Lieber Gott, bitte lass das alles ein verfluchter Traum sein. Bring die Dunkelheit dazu, sich zu verziehen, damit ich wieder ins Licht kann. Bitte, bitte. Ich will nicht im Dunkeln sein. Ich will nach Hause zu meinen sicheren Wänden. Umschlungen in meiner Decke in meinem Bett, wo die Türen geschlossen sind und die Helligkeit um mich herum ist. Ich will nach Hause!

,,Sieh mich an." sagt er. Ich höre keine Wut in seiner Stimme. Es hört sich so an, als ob er sich Sorgen macht, aber warum? Er hat mich in diese Situation gebracht. Warum kann er mich nicht in Ruhe lassen?

Raue Finger berühren mein Gesicht. Geschockt öffne ich meine geschwollenen Augen und sehe ihn an. Entschuldigend lächelt er mich an, aber der Versuch scheitert gewaltig. Ich zucke zusammen und schiebe mich von ihm weg, presse mich an die kalte Wand und rutsche immer weiter von ihm weg. Er wirkt überrascht über meine Reaktion und man merkt einen Hauch von Traurigkeit in seinen Zügen, die er aber schnell wieder verheimlicht. Er bewegt sich nicht. Er bleibt still und beobachtet mich, als ob ich ein scheues Reh wäre.

Mein Mund ist trocken, meine Lippen ebenfalls. Ich kann kein Wort sprechen, als ob ich gelähmt wäre. Außerdem weiß ich gar nicht, was ich noch sagen soll. Er hat mich. Er besitzt mich. Ich bin sein Gefangener. Stopp. Was ist los mit mir? Ich sollte so nicht denken. Ich gehöre ihm nicht. Doch. Nein, das tue ich nicht. Ich zwinge meine Gedanken, still zu sein, und das passiert auch. Leere. Nichts. Es ist still.

Irgendwann höre ich eine kratzige Stimme, die mich erschreckt. ,,Warum?" Ist das etwa meine Stimme? Ja. Es ist meine Stimme, die gesprochen hat. Ich sehe, wie er seinen Kiefer anspannt, sein Adamsapfel hebt sich, er schluckt. Ist er nervös? Wütend? Ich weiß es einfach nicht.

,,Geht es dir gut?", fragt er und wechselt das Thema. Ich kneife meine Augen zusammen und rufe ganz laut: ,,Warum?" Und wieder wird es ganz still. Ich bin jetzt wütend. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn so sehr. Nie habe ich jemanden so sehr gehasst wie ihn. Was habe ich ihm nur getan? Nichts. Ich bin stets zu jedem freundlich und nett gewesen. Nie habe ich mich falsch benommen. Weshalb bin ich dann hier? Ich will seine Antwort hören.

Ich stoppe meine Tränen und sehe ihn eiskalt an. ,,Warum?", flüstere ich erneut. Er verliert nicht einmal unseren Blickkontakt.

Er steht auf und läuft zu mir herüber. Von oben blickt er auf mich herab, sodass er mich demütigt. Doch dann kniet er sich hin und streicht vorsichtig die Strähne aus meinem Gesicht. Er streichelt meine Wange und lässt seine Hand dort liegen. Er atmet laut aus und bewegt seinen Daumen zu meinen Lippen. Ich bewege mich nicht. Ich erstarre. Seine Nähe ist so unangenehm.

,,Tut mir Leid, dass ich dir wehgetan habe, aber du hast mir keine Wahl gelassen.", er pausiert und entfernt sich von mir. ,,Weißt du, ich mag dich. Ich mag dich wirklich. In meinem Kopf habe ich schon unzählige Male von dir geträumt. Ob es dir gefällt oder nicht, du gehörst mir. Ganz alleine mir. Verstehe das bitte. Ich habe schon lange genug auf dich gewartet. Jetzt sollten wir das Beste aus dieser Situation machen, findest du nicht?" fragt er und lächelt mich mit diesen frostigen Augen an.

,,Ich hasse dich. Ich hasse dich. Ich hasse dich so sehr. Lass mich in Ruhe. Verschwinde. Ich will nach Hause. Bring mich zurück. Ich hasse dich. Du Monster!" Ich schreie und schreie. Mein Hals schmerzt enorm, aber ich höre nicht auf. Meine Augen tränen und nehmen mir meine Sicht. Alles ist verschwommen. Ich ziehe meine Knie an mich heran und verstecke mein Gesicht hinter meinen Händen. ,,Ich hasse dich.", murmele ich immer und immer wieder.

Irgendwann bekomme ich mit, wie sich die Tür öffnet und dann mit einem lauten Knall schließt, und da weiß ich, dass er weg ist. Ich bin allein.

UnheilWhere stories live. Discover now