Elvira (X)

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Ich habe eine schreckliche Nacht gehabt. Geplagt von einem furchtbaren Alptraum, der mich noch immer verfolgt. Wenn ich so darüber nachdenke, empfinde ich ein wenig Furcht vor Andre, obwohl ich weiß, dass diese Person in meinem Traum nicht der Andre war, den ich normalerweise kenne. Ich frage mich, wer diese Frau ist, die gestorben ist. Wenn ich mich an mein Traum zurückerinnere, fällt es mir schwer, ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen. Sie ist nun die Unbekannte, die in den Tod geschickt wurde. Wie kann ich solche Dinge nur träumen? Ich sollte mich für meine Gedanken schämen, jemanden in meiner Welt sterben zu lassen. Entsetzt über alles, setze ich mich auf und beobachte meine Hände, die fest miteinander verschlungen sind. Ich spüre, wie meine Finger kalt sind, so müssen die Hände der Frau gewesen sein, als sie auf dem Boden lag und Blut aus ihrer Brust quoll. Ich schüttele meinen Kopf und verstecke mein Gesicht hinter meinen Händen, um mich der Realität zu entziehen.

Natürlich ist mir bewusst, dass Andre gewalttätig werden und mir Angst machen kann, aber er kann auch so lieb sein. Weshalb habe ich dann so einen Quatsch geträumt? Ich schlucke. Ja, er liebt mich und ich muss es akzeptieren. An andere Dinge darf ich gar nicht erst denken.

Ich ziehe mein Oberteil aus, das voll von meinem Schweiß verdreckt ist, und schmeiße es auf den Boden. Ganz schnell suche ich mir ein neues Oberteil aus dem Stapel neuer Klamotten in einer Ecke meines Zimmers. Leider habe ich keinen Schrank hier, da es Andre nicht für nötig hält, hier einen aufzubauen. Kopfschüttelnd greife ich nach einem weißen Oberteil, das ganz gut zu meiner schwarzen Hose passt, und lege es vor mich hin. Dann ziehe ich das Oberteil über meinen Kopf, bis ich plötzlich etwas hinter mir höre. Ich drehe mich um und sehe Andre, der mich anstarrt und meinen fast nackten Körper begutachtet. Schnell ziehe ich mir mein Oberteil an und blicke auf den Boden. Wie habe ich ihn nicht bemerkt? Jetzt hat er mich halbnackt gesehen und er hat nicht einmal weggeschaut.

Voller Scham blicke ich ihn an. Er scheint von dieser Situation nicht angetan zu sein. Es stört ihn nicht, dass er mich obenrum nur mit BH gesehen hat. Langsam fühle ich mich unwohl, nackt vor seinen Augen. Es ist so peinlich und dann noch seine Reaktion. Er hat mich wieder emotionslos angesehen. Nicht einmal in seinen Augen konnte ich etwas erkennen. Er spielt wirklich gut. Er setzt einfach dieses Pokerface auf und bleibt für andere ein geschlossenes Buch. Wie macht er es nur? Andere Menschen würden Gier oder etwas anderes in ihren Augen zeigen, aber er... er wirkt kalt und fern. Liebt er mich noch? Seit meinem Traum mache ich mir Sorgen, dass er mich aufgibt. Ich bin nun mal Elvira, die graue Maus, der Ersatz, ein Niemand. Ein gutaussehender Mann wie Andre will mich haben, aber nun hat sich alles geändert. Wie immer verlassen mich alle. Ich fühle mich schrecklich. Er scheint keine Interesse mehr an mir zu haben.

,,Heute bekomme ich Besuch", sagt er. Ich schaue ihn an und erkenne Wut. Warum? Wer wird zu Besuch kommen? Wird er mich den ganzen Tag alleine lassen? Ich beiße mir auf die Zunge. Die Einsamkeit kommt anscheinend zurück. ,,Du wirst dich benehmen, Elvira, da ich dich dabeihaben möchte. Leider kann ich dieses Treffen nicht absagen. Es findet oft bei uns statt. Wie gesagt... du wirst dich vernünftig verhalten. Ich will kein Ärger, keine Probleme bekommen. Verstehst du, auf was ich hinaus möchte?", fragt er und ich nicke als Antwort. Natürlich weiß ich, was er von mir verlangt. Ich soll den Mund halten und mitspielen.

,,Wer wird denn kommen?", frage ich leise, um meine Neugierde zu befriedigen. Ich blicke wieder auf den Boden. Irgendwie komme ich mir wie ein Kind vor. Weshalb frage ich ihn auch? Das ist doch dumm.

,,Meine Familie", erwidert er kurz. Ich öffne meinen Mund. Ich bin schockiert und kann keine Wörter aussprechen. Seine Familie wird zu Besuch kommen. Ich werde also seine Familie kennenlernen. Aber will er mich überhaupt dabei haben? ,,Ich kann auch hier bleiben", flüstere ich und schaue ihm nicht in die Augen. Das schaffe ich einfach nicht. Warum will er mich schon dabei haben? Und was, wenn mich seine Familie nicht mag?

Andre atmet laut aus und steuert auf mich zu. Er geht wie in meinem Traum in die Knie und berührt meine Wange. Ich zittere und halte die Luft an. Ich bekomme Panik. Nein, das ist ein Traum gewesen. Ein normaler Traum. Offenbar hat Andre meine Reaktion bemerkt und nimmt seine Hand weg. Stattdessen blickt er mir tief in die Augen. ,,Ich will dich dabeihaben. Ich will, dass du meine Familie kennenlernst", sagt er sanft und sieht mich besorgt an. Ich bekomme sofort ein schlechtes Gewissen.

Ich lächele ihn scheu an und nehme meinen Mut für das zusammen, was ich gleich tun werde. Ich atme kurz ein und dann geht es los. Leicht beuge ich mich zu ihm und verdecke mit einer Hand seine Augen. Sein Blick ist viel zu intensiv, wenn er mich so anstarrt. Das hält man ja kaum aus. Dann berühre ich mit meiner anderen Hand seine Wange und streichle ihn, bevor ich ihm dann ein Kuss auf die Wange gebe. Sofort ziehe ich mich zurück und beobachte ihn. Ich weiß, dass diese Tat sehr unschuldig ist, aber ich will ihn nicht auf die Lippen küssen, da diese Frau in meinem Kopf noch anwesend ist und es würde sich dann für mich nur blöd anfühlen, Andre an derselben Stelle, wie es die Frau getan hat, zu küssen. Das will ich einfach nicht.

Er hat noch die Augen geschlossen, aber als er dann seine Augen öffnet, erkenne ich etwas Warmes. So herzlich und liebevoll. Mein Herz schlägt schneller und ich fühle mich in seiner Nähe wohl. Er lächelt mich an und steht auf. Er läuft zur Tür und sagt, dass ich mich fertigmachen soll, bevor er dann den Raum verlässt. Ich kann nicht anders, als vor mich hinzugrinsen. Er ist wirklich süß und diese Seite liebe ich so sehr an ihm.

UnheilWhere stories live. Discover now