Andre (X)

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Voller Freude laufe ich den schmutzigen Gehweg entlang, auf dem sich Wasserpfützen und Dreck vermischt haben. Geblendet von der kindlichen Fröhlichkeit vergesse ich meine Umgebung und folge meinem Herzen, das mich zu Elvira führt. Nach Hause. Home sweet Home.

Als ich endlich ankomme und den Türknopf berühre, pocht mein Herz gewaltig. Die Aufregung, sie nach einem anstrengenden Tag zu sehen, lässt mich weich werden. Was werden wir heute wohl zusammen tun? Vielleicht machen wir einen Filmabend oder ich zeige ihr die Fotos, die ich von ihr geschossen habe. Irgendwie habe ich nicht die Chance dazu gehabt, ihr diese zu zeigen. Jetzt wäre es doch eine perfekte Möglichkeit. Mit einem Lächeln öffne ich die Tür und trete hinein.

Die warme Luft im Inneren des Hauses trifft mich und lässt mich bewusst werden, dass es schon wieder Herbst wird. Möglicherweise kann ich mir nach ein paar Wochen freinehmen und mit Elvira Urlaub machen. Das ist doch eine gute Idee. Ein toller Einfall von mir. Am besten frage ich sie noch einmal, was sie darüber denkt.

Ich laufe nach unten und hole Elvira, damit wir nach oben gehen und essen können. Den ganzen Tag habe ich kein richtiges Essen im Magen gehabt.  Jetzt ist dafür Zeit und dabei habe ich den schönsten Anblick dieser Welt vor mir. Wunderbar. Lächelnd sitze ich im Wohnzimmer und esse mein Käsebrötchen, während der Fernseher angeschaltet ist und über irgendwelche Nachrichten in der Welt berichtet. Irgendwann kaue ich an meinem letzten Stück und schlucke es herunter, dabei beobachte ich Elvira, die keinen Bissen von ihrem Essen genommen hat. Beunruhigt betrachte ich sie genauer. Zurückhaltend, in sich gekehrt, scheint viel zu viel zu denken, ihre Hände in ihren Rock gekrallt, Zähne aufeinander gebissen, Knie zittern... Hier stimmt etwas nicht und diese Unwissenheit stört mich.

Mit schnellen Bewegungen ziehe ich sie zu mir und küsse sie auf den Mund, um sie von den Gedanken zu befreien. Doch sie dreht ihren Kopf weg und fängt an zu sprechen. ,,Ich will das nicht mehr", wispert sie leise. Überrascht treffen mich ihre Worte. Was redet sie da? Was will sie nicht mehr? Ich komme ihr wieder näher, schließe die Distanz zwischen uns. Ich muss sie anfassen. Ich muss wissen, dass sie mir gehört und wirklich bei mir ist. Meine Arme wandern auf ihrem kleinen Körper. Ich werde sie niemandem geben. Meins.

,,W-Wie stellst du dir eine Z-Zukunft vor?", stottert sie und beißt sich daraufhin auf die Zunge. Ich verstehe sie nicht. Warum stellt sie mir solche Fragen? Kopfschüttelnd küsse ich sie auf die Stirn. ,,Warum fragst du überhaupt?" Ich bekomme keine Antwort von ihr. Ich werde mit Schweigen bestraft, deshalb antworte ich ihr ehrlich auf ihre Frage. Ich seufze. ,,Ich lebe für den Moment und plane nicht alles voraus. Jedoch weiß ich, dass du in meiner Zukunft auftauchen wirst. Meine Hübsche."

Elvira nickt und blickt nach unten, bricht den Augenkontakt ab. Ich löse mich von ihr. ,,Und wie stellst du dir eine Beziehung vor?", fragt sie, wobei ihr eine Strähne ins Gesicht fällt. Sie hat heute ihre Haare zu einem Zopf gebunden, leider haben es ein paar Strähnen aus dem Gummiband  heraus geschafft. Sorgsam streiche ihr die Strähne hinter ihr Ohr, damit sie sie nicht stört. Verunsichert schaut sie auf mich herauf. Ich mag ihre Augenfarbe, so viel Wärme und so viele Gefühle.  Sie macht mich verrückt.
,,Ich will, dass du mich liebst, dich nach mir sehnst und mich nicht alleine lässt. Treue und Loyalität  fällt mir diesbezüglich noch ein. Ich möchte dich besser kennenlernen. Dich..." ...an mich binden, dich nicht mehr loslassen, dich besitzen. Natürlich sage ich ihr diese letzten Dinge nicht. Meine Gedanken klingen ja schon besessen. Ich greife nach ihrer Hand, massiere nach und nach alle ihre Finger. Ich genieße die Stille zwischen uns, da ich über diese Fragen nachdenken kann. Was bezweckt sie mit diesen Fragen? Ich weiß es einfach nicht. Will sie mich etwa besser kennenlernen?

,,Andre, lässt du mich irgendwann raus?", fragt eine sanfte Stimme und reißt mich aus meinen Gedanken. ,,Nein, ich lasse dich nicht raus. Du bleibst hier... Bei mir", sage ich in einem festen Ton. Ich werde sie nie ohne meine Anwesenheit rauslassen. Es ist nicht so, dass ich ihr nicht vertraue, ich vertraue den anderen Menschen nur nicht. Ihr könnte etwas passieren... und dann  wäre ich wieder alleine. Ich würde es bereuen, wenn ihr irgendetwas zustoßen würde. Ich würde mich hassen... Könnte damit nicht leben. Ich... kann ohne sie nicht existieren.

,,Warum? Wenn du mich liebst, könntest du mich doch gehen lassen. Mich selbst entscheiden lassen. Du liebst mich doch, oder nicht?" fragt sie und schaut eindringlich in meine Augen. Sucht sie etwa nach Antworten? Irgendwie scheinen mir ihre Fragen eine ganz andere Bedeutung zu haben. Eine weitere  geheime Nachricht? Ich verstehe sie einfach nicht. Sie ist mir ein Rätsel.

,,Ich liebe dich, Elvira, aber ich kann dich nicht gehen lassen. Versteh das bitte", erwidere ich und sehe in ihr emotionsloses Gesicht. Ich würde alles tun, damit sie hier bleibt, ich würde sie sogar zwingen, auch wenn sie mich irgendwann hassen würde. Für immer heißt für immer. Sie soll endlich in ihren Kopf kriegen, dass sie mir gehört.

Plötzlich lacht sie laut. Es irritiert mich. Ist sie verrückt geworden? Warum hört sie nicht auf zu lachen? Es klingt panisch, verwirrt und unecht. Ich rutsche etwas von ihr weg, gebe ihr Abstand und rede nicht mehr. Ich beobachte sie aus der Ferne, auch wenn es in Wirklichkeit nur ein paar Zentimeter sind.

Ohne es wirklich festzustellen, rennt sie weg. Ganz weit weg. Ich reagiere spät, mein Herz zieht sich zusammen, das Blut rauscht in meinen Ohren, Angst bereitet sich in mir aus. Sie rennt vor mir weg. Schnell laufe ich ihr blind hinterher. Als ich sie fast an den Handgelenken schnappen will, knallt sie die Badezimmertür zu und verriegelt sie. Panisch klopfe ich daran. Nicht, dass sie an Suizid denkt... Verdammt. Was ist hier los?

,,Elvira, mach die Tür auf!", schreie ich tief aus meiner Lunge und klopfe an die Tür. Keine Reaktion. ,,Los. Mach. Auf", brülle ich und betone jedes Wort deutlich. Als erneut keine Antwort kommt, trete ich mit einem harten Tritt gegen die Tür, bis sie sich mir weit öffnet.

Ich dränge durch den Spalt und erfriere, meine Augen weiten sich und mein Mund steht offen. Ich bekomme keinen Ton hinaus, da Elvira sich durch das kleine Fenster quetscht, dann fällt sie hinaus.

Mein Körper bebt voller Anspannung. Mein Inneres platzt, meine Hände sind zusammengeballt, weiße Knöchel stechen hinaus. Ich möchte das Atmen vergessen, meinen Kopf abschalten und diese Gefühle abstellen. Ich möchte schreien und zugleich weinen, aber ich entscheide mich für etwas ganz anderes.

'Das Glück, das dir am meisten schmeichelt, betrügt dich am ehesten.' Dieses Zitat von Franz Kafka passt ganz gut zu meiner Situation. Elvira hat mich zutiefst enttäuscht...

UnheilWhere stories live. Discover now