Elvira (X)

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,,Elvira, wie gehts dir heute?", sagt meine beste Freundin Magdalena besorgt und setzt sich auf mein kleines Bett, nimmt mir dabei meinen Platz weg. Die Matratze senkt sich ein wenig nach unten. Sie will mit mir reden, aber ich drehe ihr den Rücken zu und sage ihr, dass es mir den Umständen entsprechend gut geht. Von meinem Bett aus starre ich aus dem Fenster über die Häuser hinaus, ganz weit weg in die Ferne und beachte meine Freundin nicht mehr, die mit mir ein Gespräch führen möchte. Ein wolkenbedeckter Himmel, grau und blass. Genau wie meine Stimmung.
Immer dieselben Fragen, die man mir stellt. 'Wie geht es dir? Hast du Hunger? Willst du raus? Sollen wir etwas unternehmen? Hast du einen Alptraum gehabt?'
Jeden Tag die gleichen Szenarien, die mich weiter in mein eigenes Grab ziehen. Ich weiß, warum sie ständig nach meiner Gesundheit fragt. Sie macht sich Sorgen und will nur das Beste, aber mein Verhalten macht nichts besser. Ich werde immer verstörter und sie merkt es. Angeblich brauche ich Hilfe von Fachärzten, müsse zum Arzt gehen, um gerettet zu werden. Aber es ist nicht wirklich nötig. Ich lebe noch und das ist ein gutes Zeichen.

Ich schließe meine Augen. Ich will keine Hilfe, da sie mir dasselbe sagen werden, das ich schon längst weiß. Ich bin krank wegen Andre... meinem Entführer. Die Person, die mein Herz in seiner Hand hält. Die Person, die mich mit Leichtigkeit zerstören kann. Und die Folgen sieht man ja jetzt. Ich bin eine Ruine...

Ich weine leise über diese Erkenntnis. Leider bemerkt Magdalena diese Reaktion und will mich tröstend in den Arm nehmen, aber ich wehre mich, indem ich meine Hände gegen ihre Arme stemme, sie von mir schubse und einen lauten Schrei hinauslasse. Ich brauche Ruhe, um mit der Situation klarzukommen, aber keiner versteht es. Warum nicht? Meine Atmung ist unregelmäßig. Meine Hände zittern stark. Und mein Herz könnte bald den Geist aufgeben. In mir lebt ein Loch, das mit Trauer, Angst und Hass gefüllt ist. Meine unkontrollierbaren Gefühle, die nicht mehr weiter wissen, sammeln sich immer mehr und mehr an, so dass der Druck weiter steigt. Mein Kopf, der wegen diesem Durcheinander das Bewusstsein verlieren könnte, weiß, dass ich mich in einer miesen Lage befinde.

,,Shh... Tut mir Leid. Bleib ganz ruhig. Alles wird gut. Ich gehe jetzt... Sag Bescheid, wenn etwas passiert, ok?", sagt sie mit ruhiger Stimme und umfasst vorsichtig meine linke Hand. Ich gewähre ihr diesen Kontakt und nicke leicht. Sie soll gehen, damit ich alleine sein kann.

Kurze Zeit später liege ich einsam im Bett und denke über alles nach. Seit genau drei Monaten lebe ich bei meiner Freundin, da meine eigene Wohnung nicht mehr existiert, da alle gedacht haben, dass ich tot wäre. Außerdem will ich keine eigene Wohnung haben, da mich die ganze Einsamkeit auffressen würde. Ohne Magdalena würde ich schon tot in der Badewanne liegen und verrotten. Sie ist zwar eine nette Stütze, aber gleichzeitig diejenige, die mich herunterzieht. Nach ein paar zahlreichen schlaflosen Nächten, die sich wie die Ewigkeit angefühlt haben, habe ich aufgegeben, einzuschlafen. Jede Nacht starre ich zur Tür. Noch immer habe ich Angst, dass jemand kommt und durch die Tür hinein spaziert, um mich zu entführen, wie es einst Andre gemacht hat. Ich schlucke. Andre...

Ich schaue aus dem Fenster und sehe viele Regentropfen an der Fensterscheibe, die langsam von der Erdanziehungskraft nach unten gezogen werden. Die Äste, die vor meinem Fenster hin und her schaukeln, beruhigen mich auf eine komische Art und Weise. Blätter fliegen durch die Luft und tanzen bezaubernd. Und Vögel suchen nach einem Unterschlupf, um vor dem starken Regen zu flüchten.

Irgendwie muss ich wieder an Andre denken.

Mein Herz schlägt schneller, als sein Name in meinem Kopf ertönt. Mein Körper bebt, meine Seele sehnt sich nach ihm. Ich kann ihn nicht vergessen. Seine Augen, seine Aura, seine Worte und alles, was ihn ausmacht, verfolgen mich heftig.

Ich kann sein Gesicht nicht vergessen, als er im Gerichtssaal sein Urteil vorgelesen bekommen hat. Er hat mich ungehindert angestarrt, hat mich zu Beginn angelächelt. Im Laufe des Tages hat sich seine Miene versteinert, seine Augen funkelten voller Wut. Und als das Urteil beschlossen war, blickte er niemanden mehr an. Eiskalt und distanziert. Keiner konnte mit ihm reden. Naja, es ist eher so gewesen, dass keiner mit ihm sprechen wollte. Er wurde einfach ins Gefängnis abgeschoben. Sein Schicksal ist besiegelt.

Er gegen den Rest der Welt. Seine ganze Fassade ist zerbröckelt und eine eiskalte Maske ist übrig geblieben. Er hat drei Jahre für Freiheitsberaubung und sieben Jahre Freiheitsstrafe für versuchten Mord bekommen. Viele haben über diesen Prozess gesprochen. Die Medien haben sich auf diesen Fall gestürzt. Menschen haben nach Gerechtigkeit gerufen, aber ich konnte nur meinen Kopf schütteln und lachen.
Sie haben Andre viele unschöne Dinge an den Kopf geworfen, ihn beleidigt, ihn mit Eiern beworfen, ihn bedroht... Es tut weh mitzubekommen, wie man ihn anbrüllt und sagt, dass er kein Herz besitzt. Ich bin doch diejenige, die die Wahrheit kennt. Er hat ein Herz... Ich habe dem Richter alles erzählt, jedoch haben sie mich nicht ernst genommen. Ich sei von Andre komplett beeinflusst worden und könne keine Entscheidungen treffen. Ich sei ein Opfer eines Verbrechens, sagten sie.

Ich werde Andre nie wieder sehen können und ich denke, dass es die richtige Wahl ist. Alles ist ein Traum und nun bin ich aufgewacht. Ich bin in der Realität gelandet und kann nun endlich richtig leben. Ein normales Leben ohne Chaos führen, auch wenn ich jetzt in Angst leben muss. Ebenso taucht die Frage auf, ob ich ohne Andre überhaupt leben kann. Ich gehe auf diesen Gedanken nicht weiter ein...

Ich hoffe, Andre verändert sich im Knast und wird ein anständiger Mann. Zugleich wünsche ich mir, dass man ihm hilft, seine Probleme auf die Reihe zu bekommen. Vielleicht findet er seine wahre Liebe, die ihn bedingungslos liebt, sobald er seine Strafe beendet hat. Ich bin es auf jeden Fall nicht.

Tränen fallen, ohne dass ich sie wirklich wahrnehme. Ich habe trotzdem ein ungutes Gefühl. Kann das Gefängnis Andre zu einem guten Mann machen? Ich erschaudere wegen dieser Frage. Ich hoffe es wenigstens.

Lebe wohl, Andre.

UnheilWhere stories live. Discover now