Elvira (X)

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Zwölf Jahre später:

,,Treffen wir uns morgen, Elvira?", fragt mein fester Freund auf der anderen Seite der Leitung, mit dem ich seit fünf Jahren glücklich zusammen bin. Er hat mein Leben verändert, mich zu einer glücklicheren Person gemacht. Ich liebe ihn über alles.

,,Jep, morgen... komm aber nicht wieder zu spät, du Trottel", sage ich frech und beiße mir auf die Unterlippe. Egal, ob es ein Date oder ein wichtiger Termin ist, er vermasselt es immer und immer wieder und kommt ein paar Minuten später am Treffpunkt an. Natürlich entschuldigt er sich und verspricht es, nicht noch einmal zu tun, leider kenne ich ihn schon so gut, dass ich weiß, dass er es nicht so ernst mit seiner Aussage meint. Er kann sich einfach nicht verändern. So ist er halt.

,,Ich weiß, ich weiß..." sagt Tom. ,,Diesmal werde ich bestimmt pünktlich sein. Versprochen." Ich verdrehe die Augen. So ein Lügner.

Nach einigem Hin und Her beenden wir das Gespräch und ich lege mein Handy weg. Es ist schon dunkel geworden und mein Körper zeigt schon die ersten Reaktionen, dass ich müde bin. Deshalb lege ich mich auf mein Bett und hülle mich mit der Wolldecke zu. Davor ziehe ich aber mein Nachthemd an, das ich gestern gekauft habe.
Ich lebe mit Tom seit ein paar Monaten zusammen. Ok, wir haben zwar getrennte Wohnungen, aber er ist meistens hier. Wir denken sogar an Heirat und Kinder. Ich freue mich schon, wenn er mir einen Ring an den Finger steckt und mein Prinz wird. Das wäre der beste Moment meines Lebens. Ich als Ehefrau... Ich kann mein Grinsen nicht verstecken. Irgendwann schlafe ich ein und falle in einen tiefen und festen Schlaf.

Nach einiger Zeit öffne ich meine Augen. Ich fühle mich beobachtet, aber ich sehe nichts. Es ist zu dunkel und man kann nicht viel erkennen. Ich kneife meine Augen zusammen und betrachte das Schwarze. Irgendwie schaffe ich es, eine Gestalt zu erkennen, aber ich weiß nicht, ob es echt oder eine Täuschung meiner Augen ist. Doch ohne groß darüber nachzudenken, überkommt mich erneut die Müdigkeit und ich schlafe sicher ein.

Als ich meine Augen wieder öffne, erkenne ich sofort einen menschlichen Körper. Schnell freue ich mich und grinse, da Tom endlich zuhause ist. Mein Liebling.

Ich setze mich etwas auf, dabei rutscht mir das Hemd ein Stück nach unten. Ich schließe müde meine Augen. ,,Tom, komm unter die Decke. Es ist noch früh. Du bist heute wirklich pünktlich. Zu pünktlich", sage ich gähnend. Ich lege mich wieder auf meinen Bauch und bringe mich in eine angenehme Position.

Die Matratze senkt sich nach unten und ich kann Tom spüren. Er beugt sich zu mir. Er will mich küssen, das spüre ich. Ich schmunzele und drehe mich mit geschlossenen Augen zu ihm, um den Kuss zu empfangen. Doch dann rieche ich sein Parfüm und bekomme schlagartig eine Gänsehaut. Diesen männlichen und dezenten Geruch erkenne ich überall. Es... Es ist unmöglich. Das kann einfach nicht sein.

Schockiert reiße ich meine Augen auf und sehe Andre und nicht meinen Tom. Andre grinst mich dreckig an und lässt dadurch meinen Körper erzittern. Ich habe seit so vielen Jahren wieder Angst. Er hat mich gefunden. Wie hat er es nur geschafft? Ich kann mich nicht mehr bewegen, bin wie versteinert. Mein Puls steigt. Ich schwitze. Ich fühle mich nackt und verletzbar. Und genau das bin ich. Ich bin ihm ausgeliefert. Das ist nicht wahr. Das ist ein Traum. Ein schrecklicher Traum. Ein Alptraum. Mein Herzschlag setzt überrumpelt aus.

Er beugt sich nach unten, küsst mich drängend, als ob ich seine Luft wäre. Verdammt... nichts hat sich bei ihm verändert. Seine Lippen bewegen sich über meinen. Seine Zunge dringt in meinen Mund und erforscht alles, was ich so zu bieten habe. Seine Hände sind an meinem Körper... überall. Ich erschaudere. Ich keuche, spüre Hitze in mir steigen. Vergesse alles um mich herum. Nur er zählt. Andre...

Dieser familiäre Geruch, dieses Gesicht, sein Aussehen... Es trifft mich hart; alte Erinnerungen tauchen wieder auf. Es schmerzt einfach. Ich verkneife mir dicke Tränen, da ich stark sein möchte, aber es ist schwer. Ich bin darüber hinweg... hinweg. Ich habe alles verarbeitet. Aber weshalb zittert mein Körper? Warum klopft mein Herz so schnell? Warum kriege ich kein Wort hinaus? Weshalb berühre ich ihn? Warum stoppe ich den Kuss nicht, anstatt meine Hände unter sein T-Shirt zu schieben? Warum streichle ich seine warme und harte Haut auf und ab? Weshalb dränge ich mich an ihm? Was ist nur los mit mir? Ich habe einen Freund!

Ich zwinge mich, diesen Mann anzugucken und den Kuss zu unterbrechen. Er hat sich kein bisschen verändert. Noch immer sieht er gnadenlos gut aus. Seine blauen Augen glänzen enorm, funkeln mich an. Seine Haare sind kurz, dennoch trägt er einen Bart. Er wirkt nicht wirklich anders. Wenn ich ihn genauer betrachte, hat er an Muskelmasse zugenommen. Außerdem hat er schwarze Kleidung an. Dunkel und gefährlich. Er sieht nicht mehr fröhlich aus, sondern böse. Als mein Blick zu seinen Lippen wandert, erblicke ich eine Narbe. Ich weite meine Augen. Wer hat ihm das angetan? Was hat er nur in meiner Abwesenheit erlebt? Wie war sein Leben ohne mich?

Doch diese Gedanken verschwinden, als ich etwas Scharfes an meiner Brust spüre. Es schmerzt tief in meinem Inneren. All die Jahre waren wir getrennt und jetzt sind wir hier. Zusammen in meinem Zimmer. Ich spüre diesen Druck wie damals, als wir uns trennen mussten. All diese grausamen Jahre. Mein Herz pocht heftig. Wir hatten schwierige wie auch schöne Zeiten. Das kann niemand bestreiten. Ich habe diesen Mann sowohl geliebt als auch... gehasst. Er hat mein Leben bereichert, aber gleichzeitig zerstört.

,,Du verdienst nur das hier", sagt seine tiefe und raue Stimme zum ersten Mal. Eine Gänsehaut überzieht meinen zittrigen Körper. Ich habe seine Stimme so lange nicht mehr gehört. Noch immer hat er Macht über mich und das ist nicht gut. Doch dann versuche ich seine Worte zu verstehen und ich muss schlucken. Ich spüre einen schrecklichen, stechenden Schmerz und sehe, wie er etwas an meiner Brust herauszieht. Einen scharfen, glatten Gegenstand... Eine Waffe. Ein Werkzeug. Ein Messer, von dem mein Blut heruntertropft.

Er hat mich gefangen.

UnheilWhere stories live. Discover now