Elvira(X)

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Wir sitzen wieder nebeneinander auf der Matratze, Rücken an der Wand und unsere Blicke auf den Boden gerichtet. Ich schlucke, es ist unangenehm, bei ihm zu sein. Fühlt er es denn nicht? Sieht er nicht, wie angespannt ich bin? Ich atme laut aus.

,,Ich weiß, du hasst mich. Ich verstehe das, aber ich kann dich nicht gehen lassen. Ich mag dich einfach." Er stoppt und wirft mir einen kurzen Blick zu. Ich verkrampfe mich. Er mag mich, obwohl er mich gar nicht kennt. Verzweifelt schließe ich meine Augen. Das kann doch nicht wahr sein.

,,Ich entschuldige mich für mein dummes Verhalten. Bitte akzeptiere meine Entschuldigung und verzeihe mir. Es tut mir wirklich Leid. Du hast mich in eine seltsame Situation gebracht. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Das ist noch etwas neu für mich... Du bist endlich an meiner Seite. Ich wollte dir wirklich nicht weh tun, ich verabscheue meine Tat deswegen. Ich konnte mich einfach nicht kontrollieren, da ich dir ja nur helfen wollte. Du sollst dich bei mir wohlfühlen. Ich weiß, es ist schwer, aber du kannst es doch versuchen, oder? Ich strenge mich auch an. Wenn du willst, dann erzähle ich sogar etwas von mir. Alles, was du willst. Was denkst du?", fragt er und sieht mich so unschuldig an, obwohl er es nicht ist. Wie kann man nur so ein Aussehen haben und dann jemanden entführen? Das ist ein Rätsel, ein Mysterium. Warum hat er nur Interesse an mir?

Ich lächele ihn kurz an und nicke. Er schenkt mir sofort ein strahlendes Grinsen und plappert drauflos. ,,Ok, ich heiße Andre. Ich hätte mich anständig vorstellen sollen, oder? Naja, ich bin 27 Jahre alt, arbeite als Manager in einem recht guten Unternehmen, ehm... mein Hobby ist Boxen. Ich liebe Boxen einfach. Es macht mir Spaß, macht mich fit und es lenkt mich sehr gut ab. Ich gehe ab und an gerne ins Kino, manchmal auch in ein schickes Restaurant, doch meistens bin ich zuhause. - Hmm, was gibt es noch zu erzählen?" Er kratzt sich kurz an der Schulter und blickt dann auf die Wand auf der anderen Seite. Er wirkt jetzt eiskalt, emotionslos und verzieht keine Miene. Die Stimmung kippt schlagartig.

,,Ich habe drei Schwestern, die alle älter sind. In meiner Kindheit hatten sie die ganze Aufmerksamkeit gehabt, aber ich konnte damit leben. Ich liebe meine Schwestern über alles. Sie sind alle hübsche Frauen geworden, leben zwar alle etwas weit weg, aber wir sehen uns im Monat ab und zu. Außerdem habe ich ein angespanntes Verhältnis zu meiner Mutter. Nicht, dass du denkst, dass ich sie nicht liebe, ich tue es, aber bei uns ist es immer ganz anders gewesen als bei anderen Müttern und ihren Söhnen. Wir reden sehr wenig miteinander, da ich meinem Vater ähnlich sehe. Deswegen kann sie mich nicht ertragen und schweigt. Meine Mutter hasst mein Vater, weißt du. Ich habe Fotos von ihm gesehen. Wir ähneln uns wirklich. Er ist attraktiv gewesen, aber sehr aggressiv und hat meine Mutter sehr oft betrogen. Furchtbar, oder? Ich würde so etwas nie tun. Meine Mutter war wütend. Sie wusste davon, hat ihn aber nicht verlassen. Einmal habe ich mich getraut, meinem Vater die Meinung zu sagen, er hat mich verprügelt. Meine Mutter hat alles stumm beobachtet, meine Schwestern sind auf ihn gestürmt." Er verstummt. Er scheint nachzudenken, aber dann schüttelt er seinen Kopf und blickt mich an. ,,Es hat aber aufgehört. Vater ist tot. Verschwunden von dieser Welt und aus unserem Leben." Er grinst geheimnisvoll. Ich schlucke und merke, dass mein Mund offen steht. Schnell schließe ich ihn wieder. Hat er seinen Vater womöglich umgebracht? Oh Gott...

,,Als ich von einem anstregenden Tag nach Hause wollte, habe ich dich zum ersten Mal gesehen. Du warst mit deiner Freundin unterwegs und hast dich im Park auf eine Bank gesetzt. Du warst am Lächeln. Dein Lachen kam aus tiefstem Herzen. Irgendwie hat es mich berührt. Zauberhaft. Dort habe ich auch erfahren, dass du Elvira heißt. An dem Abend habe ich dich auch zum ersten Mal nach Hause verfolgt. In diesem Moment wusste ich, dass du mir gehören musstest. Du warst wunderschön, einzigartig. Du bist bodenständig, erscheinst mir klug. Ich habe mich in dich verliebt. Du bist ganz anders als die Leute, die ich kenne. Du hast etwas Besonderes, das ich mag. Ich kann es nicht genau sagen. Du hast mich verzaubert. " Meine Augen weiten sich. Wie lange verfolgt er mich schon? Wie kann er sich so schnell in mich verlieben? Nennt man das Liebe auf den ersten Blick? Verdammt, er ist wirklich krank.

Anscheinend hat er meinen Gesichtsausdruck gesehen, denn ich bin wirklich geschockt von seinem Geständnis. ,,Du würdest dich nie mit mir verabreden. Das ist deine Natur, leider musste ich dich haben. Ich brauche dich." Er hat recht. Ich hätte ihn nicht gedatet, dazu ist er viel zu attraktiv, hat einen guten Job und ein Haus. Das sind Traumpunkte. Im Gegensatz zu ihm habe ich nichts Tolles an mir. Ich bin nicht schön, habe einen schlecht bezahlten Job, muss Überstunden machen, und habe keine Eltern mehr. Ich kann mich nur selbst bemitleiden.

Ich bin scheu, mag keine neuen Situationen, sonst reagiere ich anders als sonst. Ich bin nie an erster Stelle gewesen. Alle Männer, die ich mochte, haben mich als Freunde gewollt oder als Ersatz. Deshalb bin ich Single. Ich bin nichts Besonderes. Was sieht er nur in mir? Kennt er mich wirklich gut genug?

Er schaut mich intensiv an und lächelt sanft. Dann hebt er seine Hand; ich zucke zusammen, aber dann entspanne ich mich wieder, als er sie auf meine Wange legt. Ich erwische mich selbst, wie ich mich an seine Hand schmiege und die Augen schließe. Warum kann er nicht normal sein?

UnheilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt