Elvira (X)

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Immer und immer wieder tippe ich auf meinen großen Zeh. Meine Beine sind nah an meinem Körper, umschlungen von meinen Armen, ich sitze alleine auf der Matratze. Niemand ist bei mir. Es ist furchtbar, alleine zu sein. Man hört nichts, man sieht nur dieselben Dinge. Alles, was ich zu hören bekomme, sind meine Gedanken, die Stimmen in meinem Kopf, die mich ganz wahnsinnig machen.

Ich schließe verzweifelt meine Augen. Vielleicht hätte ich nicht so überreagieren sollen? Stopp. Gebe ich mir gerade selbst die Schuld? Nein. Nein. Nein. So nicht. Er hat mich entführt, er hat mich gewürgt, mich in diese Lage gebracht. Er ist schuld. Er ist der Schuldige, der Verbrecher. Ein grauenhaftes Monster.

Mein Kopf schmerzt. Mein Hals tut weh. Heute habe ich seine Gewalt deutlich gespürt. Schmerzvoll. Es hat wirklich sehr wehgetan. Wie kann man nur einen Menschen so behandeln? Noch immer spüre ich alles. Seine festen, rauen, langen Finger an meiner Haut. Ich schüttele meinen Kopf, um die bösen Gedanken zu vertreiben. Ich hätte beinahe sterben können.

Plötzlich knurrt mein Magen. Ich habe wirklich Hunger. Vielleicht hätte ich ihn nicht so blöd behandeln sollen, dann hätte ich jetzt etwas zu essen. Ich blicke auf den Boden, wo die Nudeln halb auf dem Teller, halb auf dem dreckigen Untergrund liegen. Langsam bildet sich Speichel in meinem Mund, ich habe so Hunger. Sollte ich es wagen? Irgendwie... bereue ich langsam mein unmögliches Benehmen.

Ich gehe auf meine Knie und krabbele auf allen Vieren zum Essen. Dann betrachte ich es misstrauisch. Würde er mich vergiften, betäuben, um irgendwelche grauenhaften Dinge mit mir zu tun? Wenn ich darüber nachdenke, dann kann ich es ihm nicht ganz zutrauen, aber wer hätte schon gedacht, dass so ein "normaler" Mann mich entführen würde? Anderseits scheint er um mich sehr besorgt zu sein. Womöglich ist er ja doch nicht so schlimm, aber trotzdem... ich kann doch nicht so einfach aufgeben. Er ist der böse Mann.

Ich betrachte das Glas Wasser, das wunderbar auf seinem Platz steht und nicht auf den Boden gekippt ist. Deshalb nehme ich das Glas und trinke es genüsslich aus. Es ist herrlich. Ich fühle mich sofort besser. Aber ich brauche trotzdem noch etwas zu essen. Ich schaue zu den bisschen Nudeln, die noch auf dem Teller sind. Ich greife zu und esse.

Als ich fertig bin, lege ich mich wieder auf die Matratze. Er kann ziemlich gut kochen, auch wenn er ein Arsch ist. Naja, bei Nudeln kann man auch nicht viel falsch machen. Trotzdem muss ich gestehen, dass er besser kochen kann als ich. Entweder ist mein Essen zu trocken, zu stark gewürzt oder hat nichts Besonderes, außer, dass ich alles versaue. Dies ist einmal eine Abwechslung. Nächstes Mal, wenn er mit Essen zu mir kommt, werde ich es dankend annehmen müssen.

Ich streiche mir über meine Haare, die durcheinandergeraten sind und nicht mehr so schön aussehen. Ich sehe bestimmt grässlich aus. Warum mag er mich auch? Ich bin nicht einmal hübsch.

Als ich meine Hände in die Luft strecke, bemerke ich meine blauen Flecken und werde sofort traurig. Das sieht wirklich schlimm aus. Oh. Vielleicht hätte ich auch die Salbe dankend annehmen sollen. Eventuell hätte ich vorher nachdenken können, bevor ich mich zum Affen gemacht habe. Warum denke ich nicht logisch? Ich bin wegen meiner Aktion fast gestorben.

Ich sehe mich im Raum um und finde die Salbe, die einsam vor der Tür liegt. Ich laufe hin und öffne den Deckel. Ich schmiere ganz viel über meine blauen Flecken, und lege mich dann wieder hin. Es fühlt sich jetzt viel besser nach der Behandlung an.

Plötzlich höre ich ein Knacken, die Tür wird geöffnet. Ich setze mich sofort auf und blicke ihn vorsichtig an. Ich misstraue ihm noch immer. Er ist ein Mysterium und ich kann ihn nicht genau einschätzen.

,,Hallo, Elvira." Er kommt mit langsamen Schritten zu mir und hält eine rote Rose vor mein Gesicht. Diese übergibt er mir mit einem strahlenden Lächeln. Er wirkt so normal... so aufgeregt wie ein Kind. Ich vertreibe diese Gedanken und nehme die Rose an. Ich muss aufpassen, was ich tue. Noch einmal will ich ihn nicht an meinem Hals spüren.

,,Ich hoffe, du magst Rosen." Ich nicke ehrlich. Ich habe noch nie Rosen von einem Mann bekommen. ,,Ich habe dir noch Klamotten besorgt, die du anziehen kannst." Er stellt die Kleider neben der Matratze auf den Boden und blickt mich erwartungsvoll an. Ich beiße mir auf die Lippe. Warum ist er so nett und freundlich? Ich hasse das. Vorhin ist er noch sauer gewesen, hätte mich fast erwürgt, und jetzt ist er ganz lieb. Der Mann hat Probleme. So undurchschaubar...

,,Du kannst auch jetzt ins Bad... dich auffrischen und deine neuen Sachen anziehen, wenn du natürlich willst. Was hältst du davon?", fragt er. Ich nicke wieder und beobachte ihn. Er steht auf und bringt mich zum Bad. Ich gehe hinein und sehe mich um. Verdammt. Ich kann hier nicht spurlos aus dem Fenster verschwinden. Schade. Er hat alles gut geplant.

Ich verdrehe meine Augen und mache mich fertig. Ich ziehe mich um, wasche mein Gesicht, gehe zur Toilette und richte meine Haare zurecht. Ich schaue zu dem Spiegel, der über dem Waschbecken befestigt ist - ich sehe jetzt etwas besser aus, zwar nicht so wie immer, aber es ist ok.

Er bringt mich danach wieder in meinen Käfig. Ich setze mich hin und bleibe stumm. Er setzt sich zu mir, aber hält ein paar Zentimeter Abstand. Wie nett! Er möchte anscheinend mit mir reden.

,,Hast du Hunger?", fragt er vorsichtig. Ich beiße mir auf die Lippe, schüttele meinen Kopf, da ich keinen Hunger habe, und lächele ihn etwas an. Es sieht wahrscheinlich gezwungen aus.

,,Gut, gut.", er nickt und schaut auf den leeren Teller, das Glas und die auf dem Boden liegenden Nudeln. ,,Können wir reden? ...von vorne beginnen?", sagt er und blickt mich entschuldigend an.

,,Morgen.", sage ich leise. Er nickt und lächelt mich freundlich an. Dann geht er einfach raus, ohne diesmal die Tür zuzuknallen. Dabei erkenne ich in seinen Augen Traurigkeit und Bitterkeit. Möglicherweise auch Reue.

UnheilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt