Fünf

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Nicholas

Am Abend brachte ich Rachel wieder nach Hause. Wir verabschiedeten uns flüchtig voneinander, wobei ich ihr hinterher sah, bis sie in ihrer Wohnung verschwunden war.

Ich schloss meine Wohnungstür hinter mir zu, schmiss meine Schlüssel auf eine Kommode im Flur und lief ins Wohnzimmer.

Ich hasse Chase. Ich hasse Chase. Ich hasse ihn so sehr, ich könnte ihn umbringen.

In dem Apartment war es stockdunkel. Ich konnte nur einzelne Umrisse meiner Möbel erkennen. Der Fernseher ging an, als ich einen Knopf auf der Fernbedienung drückte und tauchte den Raum in bläulich, grünes Licht. Es war ein Fußballspiel, welches gerade in vollem Gange war. Was ist Fußball eigentlich für ein beschissener Sport? Ich meine, da läuft man doch nur einem blöden Ball hinterher. Naja, wer das so möchte, bitte schön. Ich fand es jedenfalls furchtbar langweilig.

Boxen. Das war mein Sport. Ich liebte den Kick, den man bekam, wenn ich meinen Gegner zusammenschlug und er am Ende blutend auf dem Boden lag.

Komisch? Ja, so bin ich nun mal. Es gibt Menschen, die fühlen hinterher sowas wie Reue, weil sie einen Menschen verletzt haben. Ich stattdessen fühle nichts. Nichts, außer Wut. Und das macht mich zu dem Monster, das ich heute bin.

Ich starre auf den Fernseher. Die Spieler verschwimmen vor meinen Augen, doch mir ist es egal.

Plötzlich sehe ich etwas im Augenwinkel. Als würde jemand dort gestanden haben und wäre nun schnell ins Dunkel verschwunden. Sehe ich jetzt auch noch Gespenster?

Ein Geräusch aus meinem Schlafzimmer lässt mich hochfahren. Ich wische meine verschwitzen Hände an der Jeans ab und laufe langsam auf den Raum zu. Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Ich fühle wie meine Aorta das Blut durch meinen Adrenalingetränkten Körper pumpt. Immer schneller und schneller.

Ich zögere nicht als ich die Tür aufstoße und sofort den Lichtschalter betätige.

Was ich dann sah, ließ mir das Blut in den Adern kochen und ich ballte meine Fäuste, um jeden Moment zuschlagen zu können.

Chase. Wie zur Hölle kam er in mein Apartment?

„Was willst du?" Brülle ich ihn an und lasse ihn nicht eine Sekunde aus den Augen.
„Reden, verdammt!" Er war genauso wütend, denn seine Stimme war nicht ein bisschen leiser als meine. Seine Haltung war angriffslustig und er würde nicht zögern mir einen Kinnhaken zu verpassen. „Das kannst du vergessen." Fauchte ich. Der Typ ist hohl wie ein Stück Scheiße.

„Ach nein?" Fragte er, plötzlich höhnisch. Dann sah ich es. Ein Messer steckte in seinem Gürtel und er trat einen Schritt auf mich zu. „Drohst du mir jetzt allen Ernstes? Du kannst nicht mal kämpfen, denn du bist ein Feigling Chase. Du kommst hier mit nem Scheiß Messer an, um mich abzustechen, wenn ich nicht reden will. Gratulation Chase, du übertriffst jede Dummheit." Ich konnte mir ein amüsiertes Lachen nicht verkneifen. „Du bist jämmerlich Chase." Kopfschüttelnd sah ich ihn an. „Verdammt Nick!" Er wollte noch was sagen, lief dann aber an mir vorbei und rammte mich mit einer Schulter.

„Chase?" Ich hielt ihn am Arm fest.

„Was?" Herrschte er mich an.

„Es tut mir leid. Wegen ihr meine ich."

„Vergiss es du Penner! Niemand weiß wie es sich anfühlt, jemanden zu verlieren, den man wirklich geliebt hat! Nicht einmal du, du kannst ja eh niemanden lieben."

„Chase sie war meine Schwester! Als ob ich das nicht wüsste!" Brüllte ich ihn an.

Er schüttelte meinen Arm ab, rannte aus der Wohnung und schmiss die Tür mit einem heftigen Schlag zu.

Erneut umfing mich diese Leere. Dieses taube Gefühl.

Scheiß Leben. Scheiß Leben.

Wieso sie? Wieso ausgerechnet sie?

Nur wegen mir. Ich bin schuld. Nicht Chase. Niemand, nur ich. Sie ist Tod. Für immer. Lily war meine Schwester. Meine kleine, süße Schwester. Sie war mein ein und alles in meinem Leben. Jetzt hatte ich nichts mehr. Und das wusste Chase genauso gut wie ich.

Aufgewühlt und schlecht gelaunt wie ich war, beschloss ich in eine Bar zu gehen und mich zu betrinken. Aber nicht in irgendeine Bar. Nein. Ich ging ins Allisons. Dort wo alles anfing und endete. Lily würde jetzt sagen, dass ich nicht dort hingehen soll und nie wieder meine Zeit an diesem Ort verschwenden darf. Sie würde auch sagen, dass es dort viel zu gefährlich ist und bla bla. Mir egal. Sie ist ja nicht mehr da.

Im Allisons angekommen, dröhnte mir die Musik auch schon durch all meine übrig gebliebenen Nerven. Irgendwelche Mädchen versuchten an den Stangen krampfhaft sexy zu sein. Dumm. Wie kann man sich nur so verkaufen? An sich war die Bar ganz nett. Rote Lederbänke an den Wänden, dunkle Tische und schwarze Sessel. Dazu große Silberne Lampen, die viel zu modern aussahen und zwei lange dunkle Tresen, wo die Getränke serviert wurden.

In der hintersten Ecke der Bar entdeckte ich die „Crew". Die Gruppe voller Arschlöcher. Jen war nicht dabei. Gut so, denn er hatte mit denen abgeschlossen. Jen hatte neue Freunde. Solche wie Caitlyn, Sofie und Ella. Und neuerdings auch Rachel. Und natürlich mich, wir waren schließlich wie Brüder.

Chase entdeckte mich als erster. Da musste wohl jemand die gleiche Idee gehabt haben, sich zu betrinken. Würde ich ihn nicht so hassen, hätte ich eine Runde ausgegeben. Vielleicht auch drei.

Ich nickte den anderen Typen auf der Couch zu. Niall, Luke und Jay. Jay hatte wie immer irgendeine Brünette auf seinem Schoß zu sitzen.

„Darf ich dir was Gutes tun?" Fragte mich plötzlich eine ekelhafte Stimme neben mir. Kaum hatte ich sie angesehen, kratzten ihre hässlichen Nägel mir auf der Brust herum. „Einen Wodka bitte. Vielleicht auch zwei." Ich stieß ihre Hand weg und machte einen Schritt zur Seite.

Mit einem beleidigten Schmollmund, der so noch größer wurde, als er in der aufgespritzten Version je hätte sein können, zog sie wieder ab.

Nach ein paar Minuten kippte ich mir einen Shot nach dem Anderen die Kehle hinab. Ich saß an der Bar- Theke und mein Gehirn war wie leergefegt. Ich wollte nur noch meine Taubheit verstärken. Wollte nicht mal mehr das Brennen in der Kehle fühlen.

Nach dem fünften Shot und noch ein paar anderen „Mundspülungen" war ich dicht. Alles drehte sich, als ich aufstand und die Bar über den Parkplatz verließ. Ich lief zum Highway, eine stark befahrene Straße, auf der oft Straßenrennen stattfanden. Ich stand am Rand der Fahrbahn und sah nur verschwommen wie die Autos an mir vorbeizogen.

Ich müsste nur einen, nein okay, vielleicht drei Schritte nach vorn machen, dann könnte das alles hier ein Ende haben. Die Autos hätten gar keine Möglichkeit zu bremsen. Das wäre mein sicherer Tod. Vielleicht wäre ich dann endlich bei Lily und vielleicht wäre ich glücklich.

Warum haben die Menschen Angst vor dem Tod? Vielleicht ist ja das Leben das Schlimme und der Tod das Gute?

Vielleicht quälen wir uns jeden einzelnen beschissenen Tag auf dieser bescheuerten Erde herum, obwohl wir nur einen Steinwurf vom Himmel entfernt sind?

Ich bin so abgefuckt. In allem was ich tue.

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