Kapitel 10

10.7K 450 27
                                    

Rachel

Die restlichen Tage bis zum Samstag vergingen relativ schnell. Ich machte Sport. Sehr viel Sport, ging jeden Tag bis Freitag arbeiten und versuchte irgendwie mal fünf Stunden ohne kotzen auszukommen. Ich aß nichts. Weder Frühstück noch Mittag oder Abendbrot. Ich fühlte mich leer. Ausgelaugt. Tod.

Meine Augen verloren den Glanz, meine Haare wurden matt und meine Lippen wurden rissig und trocken.

Ella bekam davon nichts mit, was auch gut so wahr, denn ich würde ihr auf keinen Fall erzählen, was ich so anstellte.

Sie war jeden Tag von morgens bis abends beim Ballett. Caitlyn und Sofie meldeten sich zum Glück auch nicht und Jensen ebenfalls nicht.

Nick war für zwei Tage irgendwo an der Küste weiter unten wegen einem Fotoshooting und weil er irgendetwas klären müsse. Kein Plan.

Am Freitag Abend, als ich von der Arbeit aus dem Café wieder kam, setzte ich mich in mein Bett und überlegte mir, was ich für Samstag alles kochen könnte.

Ich schrieb Nick eine Liste, was wir alles brauchten. Tortilla Chips, Mais, Zwiebeln und noch so anderes Zeug.

Wenn ich auch nur an Essen dachte, wurde mich so schlecht, dass ich drohte wieder aufzustehen und zum Klo zu rennen.

Mittlerweile war es 22 Uhr und ich war komplett fertig mit mir selbst. Ich wollte eigentlich nur noch schlafen.

Doch dann vernahm ich ein lautes Klopfen an der Tür. Ich schleppte mich äußerst genervt zur Eingangstür und öffnete sie mit einem lauten langen stöhnen.

Nick stand vor mir. Seine Haare standen ihm in alle Richtungen vom Kopf ab und er grinste mich an. Er hatte Augenringe, vermutlich weil er zu wenig schlaf bekommen hat und sein Shirt hing ihm zerknittert über dem Körper.

Plötzlich erstarb sein lächeln. "Was ist los? Mein Gott wie siehst du bitte aus?" Er war so geschockt, dass er sich keinen Zentimeter bewegte und mich nur von oben bis unten musterte.

Dann drängte er sich an mir vorbei und starrte mich weiterhin an.

"Nick, bitte. Sieh mich nicht so an." Ich musste meine Tränen zurück halten, die mir in die Augen schossen. Ich konnte nicht mehr.

Ich schluchzte auf und dann spürte ich im nächsten Moment wie er seine Arme um mich schlang und mich feste an sich drückte.

"Rachel, rede mit mir bitte. Was ist los?" Er streichelte meinen Rücken entlang und stockte einen Moment, als er meine Wirbelknochen spürte.

"Es ist nichts, mir geht es gut." Brachte ich zwischen meinen Schluchzern hervor.

Ich merkte, dass ich zitterte und mir kalt war. Meine Hände, meine Füße, mein Gesicht. Alles war kalt. Wie bei einer Toten.

Als ich mich aus seinem Arm befreit hatte, taumelte ich einen Schritt zurück.

Mir war so schwindelig. Was war das? Mein Blickfeld schien wie eingeschränkt. Die Umgebung drehte sich.

Dann war alles schwarz.

Mein Kopf schmerzte.

Ich spürte nichts.

Ich konnte mich nicht bewegen.

Was war passiert?

Ich versuchte meine Augen zu öffnen, doch der Lichtschein der auf mich eindreschte war viel zu hell. Es schmerzte. Die Helligkeit war furchtbar.

Ich spürte etwas an meiner Hand. Etwas festes, warmes.

Meine Augen müssen aufgehen! Jetzt!

Ich zwang mich meine Lider zu öffnen.

Der Druck an meiner Hand wurde stärker. Jemand beugte sich über mich.

Ich sah in zwei große graue Augen.

Nick.

Ich versuchte etwas zu sagen, doch mein Hals fühlte sich taub an.

Meine Mundhöhle brannte.

"Wasser." Krächzte ich.

Kurz danach, hielt mir Nick ein Glas an die Lippen, dessen Inhalt ich langsam schluckte.

Kalt. Nass. Das ist gut.

"Wie geht's dir?" Fragte er nach einer Weile, in der er mich nur angestarrt hatte.

"Hmm. Gut?" Das war mehr eine Frage als eine Aussage. Mir ging es nicht gut. Schon lange nicht mehr.

"Was ist passiert?" Ich konnte mich nicht daran erinnern was passiert war, nur dass Nick zu mir gekommen ist.

"Du bist ohnmächtig geworden. Warst mehrere Stunden in so einer Art Koma."

"Wie Spät?"

"Drei Uhr Nachts." Antwortete er knapp.

Seine Hand ruhte immer noch auf meiner.

"Warum hast du das getan Rachel?" Seine Stimme zitterte.

"Was?"

"Du hast seid 4 Tagen keinen Bissen mehr gegessen." Er wirkte unruhig.

"Ich weiß." Das war alles was mir gerade dazu einfiel.

"Warum?" Er streichelte meine Hand und legte seine andere Hand an meine Wange.

"Nick, ich-"

"Nein. Keine Ausreden. Sag mir, was mit dir los ist." Er duldete kein Nein.

"Ich bin Magersüchtig." Flüsterte ich.

Ich hörte wie er scharf die Luft einsog und sich mit dem Kopf auf meinen Bauch legte.

"Es hat angefangen mit dem Tod meiner Eltern." Niemals wollte ich je wieder über dieses Thema sprechen, aber bei Nick war es sicherer aufgehoben, als nur bei mir allein.

Nun sah er mich an, seine Augen waren wässerig und er zitterte leicht.

"Sie wurden umgebracht." Er schnappte nach Luft.

"Von meinem Bruder. Ich war damals ganz alleine  mit ihm. Ich wusste nicht was passiert war. Er hat mich öfter zusammengeschlagen und misshandelt, damit ich ihn nicht verpetze, wenn es heraus kommt. Ich musste mir das fast zwei Jahre lang antun.
Irgendwann habe ich abends auf ihn gewartet, doch er kam einfach nicht. Er kam nicht verdammt!" Mittlerweile weinte ich.

"Er war Tod. Jemand hatte ihn totgefahren. Ich kenne diesen jemand nicht, doch ich bin ihm auch nicht dankbar, dass er ihn umgebracht hat. Ich verstehe das nicht! Er hat mir selbst den Tod gewünscht und unsere Eltern umgebracht! Mein eigener Bruder!
Ich hatte dort niemanden. Nicht mal in der Schule. Ich wurde gemobbt und ein paar mal haben mich so eine Gruppe Jungs zusammengeschlagen. Ich konnte mich nicht bewegen. Lag zwei Tage in einem Waldstück, ehe mich ein älteres Ehepaar gefunden hat.

Das war meine Geschichte Nick! Deshalb bin ich so! Ich wollte mir das nicht antun! Aber ich kann nicht damit aufhören! Es ist immer das selbe, ich esse und fühle mich dick und hässlich und dann breche ich das ganze wieder aus und fertig! Ich kann dafür nichts!" Den letzten Satz schrie ich unter meinem Tränenüberströmten Gesicht.

Nicks Wangen waren feucht. Er weinte. Warum? Er weinte. Wegen  mir?

"Es tut mir so leid." Flüsterte er und setzte sich näher an mich heran.

Ich konnte und wollte nicht reden. Ich konnte es einfach momentan nicht.

"Wie kann man so grausam sein?" Fragte er, wahrscheinlich zu sich selbst als zu mir, denn ich hatte darauf garantiert keine Antwort.

"Ich hatte keine Ahnung Rach. Ich wäre nicht weggeflogen für die paar Tage. Ich wäre bei dir gewesen und hätte dich vor all dem ablenken und schützen können. Es tut mir leid." Eine Träne rollte ihm über das Gesicht.

"Du hattest keine Ahnung. Du hättest mich nicht schützen können. Das ist das Leben. Und das Leben ist Scheiße!"


FACEWhere stories live. Discover now