Mitgefühl

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„Hi." Er wollte nicht schniefen. Er wollte auch nicht, dass das Wort derart brüchig klang, aber das ließ sich gerade nicht vermeiden.

Ace saß auf seinem Schreibtischstuhl, hatte eine Decke um seinen Körper geschlungen und kugelte sich ein, als würde er der Welt so weniger Angriffsfläche bieten. Er hatte den Chat auf seinem Handy offen und Kopfhörer auf den Ohren, und in seinem Magen fühlte sich alles ein bisschen kalt und leer an, aber er vertraute aus Erfahrung darauf, dass das früher oder später wieder weggehen würde.

Es war Freitagnachmittag. Ace war seit ein paar Stunden aus der Schule zurück und hatte die Zeit solange mit ‚Rumsitzen' und ‚Gedanken kreisen lassen' überbrückt, dass er sich inzwischen nur noch schwach und trübsinnig fühlte.

„Hi... du klingst nicht gut, Icy." Er hatte Mühe, die Tränen in seinen Augen zurückzublinzeln, als er die Sorge in der Stimme hörte.

Para und er waren allein im Chat – weniger durch Zufall und eher, weil Ace ewig auf sein Erscheinen gewartet und ihn in der Sekunde seines Auftauchens um ein persönliches Gespräch gebeten hatte. Das war wahrscheinlich unfair, er zerstörte damit nicht nur dessen Tagesplanung, sondern auch die seiner wartenden Mitspieler, aber Ace wusste sich nicht anders zu helfen.

„Mir geht's auch nicht so gut." Seine Stimme brach zwischendurch ein bisschen, ehe er sich wieder gefangen hatte. „Ich muss mit dir reden. Über dieses Zeug... naja, das du Leute gemobbt hast. Oder so."


Dabei hatte die Woche eigentlich so gut angefangen. Ace lebte in seiner eigenen Welt oder in der virtuellen von Mortal Realms, und die Schule war daneben nur eine Randerscheinung, durch die er geisterte und hoffte, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ungefähr die Hälfte aller Unterrichtsstunden verbrachte er damit, mehr oder weniger subtil zu zeichnen – Duffy, der in Schneelawinen erstickte und durch dieses nicht allzu noble Opfer Bosskämpfe behinderte, nervige androgyne Schattenläufer mit rotzfrechem Grinsen im Gesicht, Comics, in denen Spidey ihre Genehmigungen für eine festgelegte Anzahl von Peniswitzen am Tag verteilte – und sobald er zuhause ankam, war er wieder im Spiel. Es war so leicht, sich bei den anderen treiben zu lassen. So leicht, dumme Witze zu machen und Spaß zu haben und Monster zu töten und darüber all seine realen Probleme zu verdrängen.

Es war ein wenig lästig, dass er keine Möglichkeit mehr bekam, mit Para zu sprechen. Zumindest nicht richtig. Sicher, Ace hatte auch nichts dagegen, einfach herumzusitzen und sich beschallen zu lassen, aber dennoch waren die Gespräche, die sie in der Gruppe führten, immer nur oberflächlich und dazu da zu unterhalten. Jede ernstzunehmendere Frage, egal von wem, wurde mit Lachen und Witzen abgebremst. So sehr es auch entspannte, komplett abschalten zu können, wünschte ein Teil von Ace sich wieder tiefere Diskussionen. Gleichzeitig traute er sich nicht wirklich, Para selbst anzuschreiben und darum zu bitten. Ace wusste ja nicht einmal konkret, über was er reden wollte! ... Und zusätzlich war der Junge jedes Mal, wenn er online war und sich nicht irgendwo im realen Leben herumtrieb, schon wild in Gespräche verstrickt.

Dann kam der Freitag. Ace hatte den ersten Bus verschlafen, und hätte seine Mutter ihn nicht aus dem Bett gescheucht, wäre ihm dasselbe mit dem zweiten Bus passiert. Er hatte den Donnerstag ein wenig zu lange gespielt, immer wieder mit der Begründung, dass es doch nur noch dieser eine Boss ist und er könne ja in Kürze verschwinden, und erst drei Uhr morgens war ihm klar geworden, dass er sein Glück nicht herausfordern sollte.

Er war immer noch nicht richtig wach, als er sich dem Schuleingang genähert hatte, mit dunklen Schatten unter den Augen, eingezogenen Schultern und Händen, die tief in der Bauchtasche seines Hoodies vergraben waren.

The Games We Play (BoyxBoy)Where stories live. Discover now