Gehirntumor

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Normalerweise genoss Nero es, im Wald zu arbeiten. Jetzt im Herbst stand das Bodengestrüpp zwar immer noch hoch, aber es war nicht der wuchernde Urwald, den man im Hochsommer vorfand, und solange man sich auf und rund um die ausgewiesenen Pfade bewegte, ließ sich leicht vorankommen.

Normalerweise gab ihm das hier eine Möglichkeit, abzuschalten, Arbeit hin oder her. Die Ruhe, die Abwesenheit fremder Menschen, das erdrückende Grün und die Geräusche und Gerüche, die ihn wissen ließen, dass alles um ihn herum lebte und wuchs und ihm dennoch den Platz gab, sich auszubreiten und mit sich allein zu sein...

„Nero,... - Nero, bitte, ich flehe dich, ich mach alles, nur mach sie weg!"

Normalerweise.

„Könntest du dich bitte mal zwei Sekunden lang entspannen?", erkundigte er sich, während er die Spinne sanft von Kellins Kapuze pflückte. Einen Moment lang lastete ihr Gewicht kitzelnd auf Neros Handrücken, ehe sie versuchte, über den Jackenärmel zu entkommen. Er fing sie mit der anderen Hand ab, ehe sie weit kommen konnte, und setzte sie behutsam zurück auf den Stamm, an dem sie ihr Netz gespannt hatte. Hatte – zumindest, bis Kellin blinden Auges direkt hineingerannt war, um einem anderen Spinnennetz auszuweichen, dass er in seinem Rücken entdeckt hatte. „Die ist noch nichtmal groß."

„Sie hat den Durchmesser von meinem Finger!", beschwerte sich der kleinere Junge, der immer noch ein wenig gekrümmt stand und mit ängstlich verzerrtem Gesicht durch seine dunkelblonden Locken tastete.

„Ist bei deinen Babyhänden nicht schwer." Nero trottete zwischen den nun netzfreien Bäumen hindurch und schaute sich um. Ein letztes Mal glich er den Anblick der vor ihm liegenden Bäume mit dem Infoblatt auf seinem Handy ab, dann sprühte er ein großes, orangenes X auf eine der Rinden und trug es als einen weiteren Standpunkt auf ihrer Geomap ein.

„Oh Gott, ich hasse Herbst, ich hasse Wälder, warum existiert sowas überhaupt, wer hat das erfunden, ich seh dahinten schon wieder zwei!" Es brauchte nicht viel, um Kellin dazu zu bringen, seine Stimme in ängstliche Höhen zu schrauben, und Nero verzog das Gesicht. Seine Geräuschempfindlichkeit machte das jungenhafte Gequietsche nicht angenehmer.

Einen Moment lang hatte er furchtbar sympathische Bilder vor Augen, in denen er ein paar der achtbeinigen Krabbler einfach direkt über Kellins Mund baumeln lassen könnte, bis der sich dank Schocktherapie eingekriegt hatte, dann riss er sich wieder zusammen.

„Wie kannst du eigentlich nicht wissen, dass es im Herbst in Wäldern Spinnen gibt? Gerade bei deiner Mum kann ichs mir nicht vorstellen, dass die dich niemals zum Pilzesammeln rausgeschliffen hat."

„Ich hatte es verdrängt.", murmelte Kellin hinter ihm ein wenig verdrießlich. „So traumatische Kindheitserinnerungen vergisst man nunmal schnell, wenn du mit Babykatzen lockst."

„Hey. Das ist gelogen, niemand hat irgendwen gelockt." Viel eher war es so, dass Kellin anwesend war, als Nero von einigen der Events berichtete, die sich in seinen Arbeitsalltag mischten, und ohne dass er auch nur ein Wort der Bestätigung von sich gegeben hatte, war der Junge Feuer und Flamme gewesen. Touristen über Pilze aufklären und Wildtiere kraulen? Das kann ich auch! Nero hatte sogar noch versucht einzuwenden, dass er sich nicht so große Hoffnungen machen sollte, einen Großteil des Jahres wurden sie für Instandhaltung, Waldpflege und ganz gewöhnliche Forstarbeit herangepfiffen, aber irgendwie war das auf taube Ohren gefallen. Kellin hatte nichts mehr hören können außer ‚Ich darf mit Nero Katzen streicheln und werd dafür bezahlt'. Jetzt war es Herbstbeginn, und die Parkassistenten wurden in den Wald geschickt, um neue Klebefolie auf die verwitterten Informationstafeln zu streichen und die Holzernte vorzubereiten, indem sie die passenden Bäume markierten und einspeicherten, damit die Software ihre Transportwege berechnen konnte. Und als Kellin das letzte Mal in Tränen aufgelöst von seiner Route zurückkam, hatte Nero sich breitschlagen lassen, ihn zu begleiten. Wer hätte denn auch wissen können, dass es in nordamerikanischen Wäldern mehr gab gab als nur kuschelige Wildkaninchen?

The Games We Play (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt